Die sowjetische und heutige russische Forschung über die Waräger als Gründer Russlands

Informationen und Diskussionen, aktuelle Ereignisse, politische und wirtschaftliche Hintergründe

Moderator: Barbarossa

Dietrich
Mitglied
Beiträge: 1755
Registriert: 04.05.2012, 18:42
Wohnort: Ostfalen

Bis heute gibt es eine wissenschaftliche Kontroverse, welche Rolle die skandinavischen Waeäger bei der Entstehung Russlands spielten. Besonders zu Zeiten der Sowjetunion mochten die russischen Historiker nahezu keinen Einfluss sehen, nach dem Zusammenbruch der SU wurde der warägische Einfluss als bedeutend veranschlagt - was auch die Meinung der westlichen Historiker ist. Seit Putins Imponiergehabe dreht sich das Rad erneut rückwärts: nunmehr wird dort die Bedeutung der Waräger wieder minimalisiert.

Was ist von alledem zu halten?

Die Waräger - also skandinavische Wikinger - kamen vor allem aus Schweden, befuhren als kriegerische Fernkaufleute die großen Ströme Osteuropas und trieben Handel von der Ostsee bis Byzanz. Zu den Eckpunkten zählt die Gründung von Nowgorod und Kiew im 9. Jh., die bezeichnenderweise in ihrer skandinavischen Urform als Holmgard und Känugard überliefert sind.

Der Streit zwischen russischen und westlichen Wissenschaftlern entzündet sich seit jeher an der Frage, welchen Beitrag die Waräger bei der Staatswerdung der Russen leisteten. Wie nicht anders zu erwarten, schätzen russische Forscher diesen Beitrag als sehr gering oder sogar als nicht vorhanden ein, während westliche Forscher meinen, dass die Waräger eine durchaus beachtliche Rolle spielten.

Fakt ist, dass es sich bei den Warägern um eine dünne Schicht handelte. Sie tat sich frühzeitig mit der alteingesessenen Bevölkerung zusammen, die bis dahin noch keine staatliche Form gefunden hatte. Insofern wirkten die Waräger - so gering ihre Zahl auch war - als Katalysator für den Beginn eines russischen Staatswesens. Dass sie hier anfangs die treibende Kraft waren, geht schon aus den Namen der Regierungselite hervor. So hießen frühe Führungsfiguren zwar Askold, Dir, Oleg und Igor, ihre skandinavischen Namen lauteten jedoch Haskuldt, Dyri, Helgi und Ingvar.

Am Anfang gab es also eine tributäre Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch die Waräger und den von ihnen dominierten Fernhandel. So tragen z.B. die Unterzeichner der Handelsverträge mit Byzanz von 911 und 944 ausschließlich skandinavische Namen. Frühzeitig erkannten aber die Waräger, dass sie sich zur Beherrscheung der Weiten des riesigen Raums mit den Einheimischen arrangieren mussten. Und so kam, was in der Weltgeschichte häufig zu finden ist: Die Waräger heirateten in die russische Elite ein und es kam spätestens seit Ende des 10. Jh. zu einer völligen Verschmelzung der dünnen Warägerschicht mit den Russen.

Ich würde also nicht so weit gehen zu sagen, dass die Waräger den russischen Staat (bzw. die russischen Fürstentümer) gründeten. Aber sie waren als Katalysator wesentlich daran beteiligt.
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Dem ist eigentlich wenig hinzuzufügen und inzwischen auch in Russland akzeptiert.
Gibt eine Reihe neuerer Arbeiten dazu, die in etwa den Tenor haben.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Benutzeravatar
dieter
Mitglied
Beiträge: 10152
Registriert: 29.04.2012, 09:48
Wohnort: Frankfurt/M.

Lieber Dietrich,
den Warägern ist es so ergangen, wie den Langborden in Italien, den Westgoten bis zur fast völligen Landnahme der Mauren in Spanien, wo es dann zur Reconquista kam und den Franken in Frankreich. Es war immer ein Mangel an germanischer Bevölkerung. :wink:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
Dietrich
Mitglied
Beiträge: 1755
Registriert: 04.05.2012, 18:42
Wohnort: Ostfalen

dieter hat geschrieben:Lieber Dietrich,
den Warägern ist es so ergangen, wie den Langborden in Italien, den Westgoten bis zur fast völligen Landnahme der Mauren in Spanien, wo es dann zur Reconquista kam und den Franken in Frankreich. Es war immer ein Mangel an germanischer Bevölkerung. :wink:
Das hat es in der Geschichte vielfach gegeben, dass eine dünne Erobererschicht im Lauf der Zeit mit der unterworfenen Bevölkerung verschmilzt. Das gilt für Langobarden, Vandalen oder Goten ebenso, wie für die turkstämmigen Protobulgaren an der Donau oder die Franken, die mit der gallo-römischen Bevölkerung Galliens verschmolzen und ihre germanische Identität verloren.

Bei den skandinavischen Warägern muss man anerkennen, dass sie wesentlich zur Geburt des russischen Staates beitrugen. Die Rurikiden - legendäre warägische Dynastie - herrschten immerhin vom 9. Jh. bis 1598 über die Fürstentümer der Rus und stellten Großfürsten und mit Iwan IV. (dem Schrecklichen) den ersten Zaren.

Russland ist also eng mit den Warägern verbunden, ob das nationalistischen russischen Historikern nun passt oder nicht.
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Russland ist also eng mit den Warägern verbunden, ob das nationalistischen russischen Historikern nun passt oder nicht.
Richtig. Aber auch wieder nicht so eng, wie es andere Kreise gern gehabt hätten.
Lieber Dietrich,
den Warägern ist es so ergangen, wie den Langborden in Italien, den Westgoten bis zur fast völligen Landnahme der Mauren in Spanien, wo es dann zur Reconquista kam und den Franken in Frankreich. Es war immer ein Mangel an germanischer Bevölkerung.
Ob der "Mangel an germanischer Bevölkerung" nicht auch sein Positives hatte, was die Entstehung und Entwicklung von Kultur und Lebensart betrifft, ist eine andere Sache. :)
Der blinde Nationalismus ist vielen jüngeren russischen Historikern inzwischen fern, diesupra nationale Zusammenarbeit der Archäologen und Historiker funktioniert gut.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Benutzeravatar
dieter
Mitglied
Beiträge: 10152
Registriert: 29.04.2012, 09:48
Wohnort: Frankfurt/M.

Dietrich hat geschrieben:
dieter hat geschrieben:Lieber Dietrich,
den Warägern ist es so ergangen, wie den Langborden in Italien, den Westgoten bis zur fast völligen Landnahme der Mauren in Spanien, wo es dann zur Reconquista kam und den Franken in Frankreich. Es war immer ein Mangel an germanischer Bevölkerung. :wink:
Das hat es in der Geschichte vielfach gegeben, dass eine dünne Erobererschicht im Lauf der Zeit mit der unterworfenen Bevölkerung verschmilzt. Das gilt für Langobarden, Vandalen oder Goten ebenso, wie für die turkstämmigen Protobulgaren an der Donau oder die Franken, die mit der gallo-römischen Bevölkerung Galliens verschmolzen und ihre germanische Identität verloren.

Bei den skandinavischen Warägern muss man anerkennen, dass sie wesentlich zur Geburt des russischen Staates beitrugen. Die Rurikiden - legendäre warägische Dynastie - herrschten immerhin vom 9. Jh. bis 1598 über die Fürstentümer der Rus und stellten Großfürsten und mit Iwan IV. (dem Schrecklichen) den ersten Zaren.

Russland ist also eng mit den Warägern verbunden, ob das nationalistischen russischen Historikern nun passt oder nicht.
Lieber Dietrich,
das sehe ich ebenso. Da können die Russen an ihrer Geschichte solange wie sie wollen versuchen zu manipulieren wie sie wollen, sie können die Wahrheit auf Dauer nicht verschleiern. :roll:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Dieter hat geschrieben:Lieber Dietrich,
das sehe ich ebenso. Da können die Russen an ihrer Geschichte solange wie sie wollen versuchen zu manipulieren wie sie wollen, sie können die Wahrheit auf Dauer nicht verschleiern. :roll:
Was da in der Breite wohl unterstellt werden soll, tun "die Russen" auch gar nicht mehr, zumindest die seriösen Wissenschaftler nicht.
Auch in den Schulen wird das Thema inzwischen sehr viel anders behandelt als in alten Zeiten.
So lange wie russische Wissenschaftler wieder frei forschen und international veröffentlichen können, lässt sich relativ mühelos erkennen, wie sich der Wind gedreht hat, wenn in Gebieten recherchiert, wo die russische Geschichte des Mittelalters die der Waräger/ Wikinger tangiert- oder umgekehrt.
Mal andersherum, ist es erst der jüngeren/ jungen Generation von Wissenschaftlern in Deutschland wie in Europa überhaupt, sich von Zeitgeist- national gefärbten Denkmustern und Forschungsfragen zu lösen und auf internationaler Ebene zusammenzuarbeiten, was der Wissenschaft höchst zuträglich ist. Gibt wenig Grund, sich "den Russen" da meilenweit überlegen zu fühlen, von nationalen Scheuklappen waren deutsche Forscher auch nie frei- bis in die 90er Jahre nicht.
Möge die akademische Freiheit auch in Russland erhalten bleiben!
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag

Zurück zu „Russland“