Leitkultur? Wertesysteme?

Grundgesetz, Gesetzesfragen, Wahlen, bundespolitische Ereignisse, Polizei

Moderator: Barbarossa

Paul
Mitglied
Beiträge: 2739
Registriert: 29.04.2012, 18:44
Wohnort: Mittelhessen an der Loganaha

Unser Wertesystem hat sich in den letzten 2000 Jahren sehr geändert. Die Veränderungen in den letzten 100 Jahren waren nochmal dramatisch und haben einiges wieder umgeschmissen.
Wir hatten im Laufe der Zeit das Christentum angenommen. Es hat aber dann noch länger gedauert die Werte zumindest als Leitziele anzuerkennen. Das was gut und Böse war, bekam neue Inhalte. Umgesetzt wird es dennoch nur teilweise. Die gesellschaftliche Kontrolle wird abgebaut.
Neu sind neue Toleranzen im persönlichen Bereich und die antiautoritäre Erziehung. Die Gleichberechtigung der Frau war hier immer ein bischen weiter entwickelt, als im Süden, konnte sich aber weiter entwickeln. Demokratische Traditionen hatten wir eigentlich, sie wurden dann aber über lange Zeiträume unterdrückt. Viele Entwicklungen vollzogen sich in ganz Europa und darüber hinaus.
Einwanderer aus ganz anderen Regionen erleben natürlich einen Kulturschock, auch wenn sie über das Fernsehen schon auf manches vorbereitet sind. Arbeitsdisziplin, Genauigkeit bei der Arbeit, Sauberkeit außerhalb der eignen Wohnung, Pünktlichkeit als Ziele werden vielleicht belächelt, aber vielleicht nicht in Frage gestellt. Problematischer sind Punkte, welche die Religion berühren können.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Hat jemand die Sendungen für Flüchtlinge auf n-tv gesehen? Bitte nicht mit dem Maß unseres Wissens messen, sondern überlegen, an wen die sich in welchem als Einstieg Zustand richten.
Schonmal ein Anfang, den Menschen zu erklären, was sie hier zu akzeptieren haben.
Hier die neuste Folge verlinkt, die anderen sind ( nicht alle mit deutschen Untertiteln) verfügbar.
http://www.n-tv.de/mediathek/sendungen/ ... 02276.html

In Folge 1- So ticken die Deutschen- musste ich gelegentlich lachen, denn die Sache mit den Ampeln ist nicht nur für die Flüchtlinge ungewohnt- schon für Franzosen.Tja, und unser deutsches Brot fasziniert ebenfalls unsere Nachbarn auf der anderen Rheinseite.
Manches stimmt doch, was man Deutschland und den Deutschen so nachsagt- auch unsere Regelungswut. :)
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15514
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Hab jetzt mal reingeschaut - hmm - "einfach alles hat feste Regeln im Straßenverkehr..." und so - dafür scheint mir das partnerschaftliche Leben der Neuankömmlinge völlig überreglementiert und auch Gewaltlosigkeit scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein.
Das Grundgesetz und überhaupt die hiesigen Grundrechte und Gesetze beachten, das ist schon eine wichtige Lektion. Ich hoffe auch, dass das alle Neuankömmlinge den Beitrag zu sehen bekommen und ihn auch verinnerlichen.
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Renegat
Mitglied
Beiträge: 2045
Registriert: 29.04.2012, 19:42

Den Beitrag habe ich nicht gesehen, zucke innerlich immer etwas zurück, wenn es um theoretische Regeln geht. Wir haben ja so viele und teilweise derart spezielle, die kann man gar nicht alle kennen und verinnerlichen schon gar nicht.
Irgendwie denke ich dabei meist an das "kleingedruckte" von Verträgen oder Gebrauchsanweisungen, die zwar überall anliegen aber kaum einer liest.
Das Grundgesetz und sowas wie "common sense" als allgemeine Verhaltensübereinkunft und Leitbild reichen mir.
Die Religionen machten das schon geschickt, die 10 Gebote sind schön übersichtlich und passen erstaunlich gut in die heutige Zeit, wo es alle kurz und knapp wollen.

Damit bin ich am heutigen Reformationstag gelandet, der in einigen Bundesländern Feiertag ist.
Früher war es wohl Brauch an Martini 10.11. "Luthersingen" zu gehen. https://de.wikipedia.org/wiki/Martinisingen
Kann sein, dass man das auch am katholischen Martinstag 11.11. noch mal zelebrierte. Manchmal mit Laterne, der Sinn lag aber im Erbetteln von Süßigkeiten an der Haustür von Nachbarn. Der heilige Martin des Teilens passt dazu sehr gut.
Dieses ältere ev.kath. Doppeltagsingen 10./11.11. wird auch dieses Jahr noch stattfinden.
Inzwischen hat es aber Konkurrenz bekommen von einem anderen Doppeltag, dem heutigen Reformationstag und dem morgigen Allerheiligen. Halloween ist viel cooler, es geht zwar auch um Süßigkeiten, man arbeitet jedoch mit Bedrohung und feiert auch noch wilde Parties.
Schon komisch, ich weiß gar nicht, welchen kulturellen Wert man aus diesem Tagesbedeutungswirrwarr ableiten soll. :crazy:
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Das Grundgesetz und sowas wie "common sense" als allgemeine Verhaltensübereinkunft und Leitbild reichen mir.
@ Renegat: Die Beiträge solltest Du Du Dir ansehen- die sind nämlich gut und erklären zunächst mal das wirklich Wichtige- genau das, was Du meinst.
Zum 31.10.: Reformationstag, wir mussten früher noch zum Schulgottesdienst, die Katholiken am 1.11., zu Allerheiligen.
Heute ziehen die Halloween-Gestalten durchs Dorf- aber nicht während der Andacht in der Kirche.
St. Martin gab es den Martinszug, dann sind sind Evangelen und Katholen mit ihren Laternen von Haus zu Haus zu gezogen, haben für Süßigkeiten Lieder gesungen- ist inzwischen nicht mehr so cool, auch im katholischen Rheinland nicht.
Barbarossa hat geschrieben:Hab jetzt mal reingeschaut - hmm - "einfach alles hat feste Regeln im Straßenverkehr..." und so - dafür scheint mir das partnerschaftliche Leben der Neuankömmlinge völlig überreglementiert und auch Gewaltlosigkeit scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein.
Das Grundgesetz und überhaupt die hiesigen Grundrechte und Gesetze beachten, das ist schon eine wichtige Lektion. Ich hoffe auch, dass das alle Neuankömmlinge den Beitrag zu sehen bekommen und ihn auch verinnerlichen.
Soll ja nicht nur bei den Beiträgen bleiben, sondern auch in späteren Integrations-Pflicht-Kursen gelehrt und vertieft werden.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Katarina Ke
Mitglied
Beiträge: 137
Registriert: 04.11.2014, 02:09
Wohnort: Köln
Kontaktdaten:

Die Leitkultur wird vom Grundgesetz geprägt.

Wer sich nicht dazu bekennt, der möge sich ein anderes Land aussuchen. Leitkultur bedeutet nicht, dass man jeden Tag Eisbein mit Sauerkraut essen muss. Aber die Grundentscheidungen mit den Staatszielbestimmungen des Art. 20 GG und die Grund- und Menschenrechte in den Artikeln 1 bis 17 GG sind verbindlich. Sie erlauben es einem Muslim, seinen Glauben zu leben, wenn er die religiösen Überzeugungen anderen Menschen akzeptiert. In islamischen Ländern sieht es anders aus.

Natürlich gibt es viele Deutsche, die den Text des Grundgesetzes nicht im Wortlaut kennen, aber sie halten sich im Alltag daran.
Geschichte sollte so geschrieben werden, wie man eine Geschichte erzählt - lebendig und an den Fakten orientiert. Meine Homepage: http://www.katharinakellmann-historikerin.de/
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Katarina KE hat geschrieben:Die Leitkultur wird vom Grundgesetz geprägt.
Ja, und eigentlich kann man seit einer Woche dann auch die nationale Bezeichnung weglassen.
Unser GG ist eine Version der definierten Grundwerte und Gesetze, auf die sich letztlich alle demokratischen Staaten berufen.
Aspekt Sprache:
Nicht immer so, in Irland z.B. ist Irish Gaelic zwar 1. Amtssprache, in Nordirland anerkanne Minderheitensprache, aber wieviele Iren tatsächlich diese Sprache im Alltag und offiziell benutzen, ist eine andere Sache.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15514
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Aber das ist wohl eine große Ausnahme Umgangssprache in Irland. Das hat wohl auch historische Gründe.

[ Post made via Android ] Bild
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Paul
Mitglied
Beiträge: 2739
Registriert: 29.04.2012, 18:44
Wohnort: Mittelhessen an der Loganaha

Das Einhalten der Gesetze ist das absolute Minimum, was man von allen erwartet, die sich in einem Land aufhalten. Viele und darunter auch ich wünschen sich eine weitergehende Anpassung an Landessitten. Beispiele:
Das auch die Mädchen am normalen Unterricht z.B. dem Schwimmen teilnehmen.
Das keine Messer für Streitigkeiten bereit gehalten werden.
Das man auch Frauen die Hände gibt.
Das man keinen Dreck auf die Wege wirft z.B. Kippen.
Das die Landessprache erlernt wird.
Das Verträge eingehalten werden.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Aber das ist wohl eine große Ausnahme Umgangssprache in Irland. Das hat wohl auch historische Gründe.
Hat historische Gründe- und eigentlich müssten gerade darum viel mehr Iren ihre Sprache als Alltagssprache benutzen.
Tendenz ist steigend. Ich kam durch einen Klausurtext darauf, dass die der Ethnie zugehörige Sprache nicht immer erstes Zugehörigkeitsmerkmal oder Symbol für Leitkultur sein muss.
Dennoch ist Irland, sind die Iren in ihrer Eigendefinition und in ihrem Alltagsleben eben keine Engländer. Als Folklore zu benennen oder abzutun ist es nicht, was Irland jenseits der Sprache ausmacht.
Paul hat geschrieben:Das keine Messer für Streitigkeiten bereit gehalten werden.
Das man auch Frauen die Hände gibt.
Das man keinen Dreck auf die Wege wirft z.B. Kippen.
Das die Landessprache erlernt wird.
Das Verträge eingehalten werden.
Manches davon muss man gar nicht mal so wenigen Bio-Deutschen ( wieder) beibringen. Müll und Kippen wegzuwerfen ist nun wahrlich in reichlichem Maße immer deutsche Untugend, an Sprachfähigkeit mangelt es unter hiesigen Eingeborenen ebenso häufig, Unpünktlichkeit und Nicht-Einhalten von Verträgen sind auch nicht Zuwanderer-spezifisch.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Katarina Ke
Mitglied
Beiträge: 137
Registriert: 04.11.2014, 02:09
Wohnort: Köln
Kontaktdaten:

Welche nationale Bezeichnung kann man seit einer Woche weglassen?

Unsere Verfassung heißt "Grundgesetz". Der Name wurde nach 1990 bewusst nicht geändert.

Es ist natürlich schwierig, den Begriff "Leitkultur" zu definieren. Es besteht die Gefahr, dass ein idealtypischer Deutscher als Maßstab herhalten muss und diesen Idealtyp gibt es nicht.

Aber jedes Land, das Menschen aufnimmt oder ihnen die Chance zur Einbürgerung gibt, verlangt ein Mindestmaß an Sprachkenntnissen und ein Bekenntnis zur Verfassung.

Unser Problem besteht darin, dass wir es - warum auch immer - nicht geschafft haben, den "Mitbürgern mit Zuwanderungsgeschichte" (oder einem Teil dieser Menschen) zu vermitteln, dass sie nicht deutsche Infrastruktur mit türkischer Lebensart verbinden können. Es gibt in Köln diese Parallelgesellschaften. Nicht wenige haben einen deutschen Pass, aber sie benehmen sich so, als sei Deutschland für sie Ausland. Sie arbeiten, zahlen Steuern, wundern sich, dass "deutsche Schwuchteln" heiraten können und bleiben bewusst unter sich.

Okay, dieser Beitrag entbehrt nicht einer gewissen Polemik. Ich empfehle zum Anschauungsunterricht Teile der Venloer Strasse in Köln.
Geschichte sollte so geschrieben werden, wie man eine Geschichte erzählt - lebendig und an den Fakten orientiert. Meine Homepage: http://www.katharinakellmann-historikerin.de/
Renegat
Mitglied
Beiträge: 2045
Registriert: 29.04.2012, 19:42

Zum westl. Wertesystem ist in diesem Faden und anderswo viel gesagt worden. Aktuell wird zum wiederholten Male die Leitkultur diskutiert, obwohl keiner so genau sagen kann, auf was sich außer dem GG alle Bürger einigen könnten. Wir leben in einer vielschichtigen Gesellschaft, Wallenstein hat das auf Seite 1 mit den Sinuswelten begründet. http://geschichte-wissen.de/foren/viewt ... f=4&t=5429
Allerorten hört man z.Zt. Aussagen zu unserem Lebensstil, Toleranz, Feier- und Freizeitkultur, die wir verteidigen wollen.
Ich würde das als westl. Lebensstil bezeichnen und das meine ich in Abgrenzung zu unseren Werten, die im GG und ähnlichen westlichen Verfassungen einigermaßen geregelt sind.
Beim Stichwort Integration auf das GG und ein paar common sense - Regeln zu verweisen, ist verhältnismäßig einfach.

Was seht ihr dagegen den westlichen Lebensstil? Und vor allem, wie wird der von außen gesehen oder von frisch angekommenen Flüchtlingen? Sehen die nicht zuerst die Glitzerwelt unserer Konsumtempel, die großen, neuen Autos, den Überfluss, auch die Verschwendung? Welchen Eindruck haben sie von unseren sozialen Strukturen, unseren Großereignissen und was da wie gefeiert wird, den Unterschieden zwischen arm und reich?
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Danke, Renegat, ich wollte heute Mittag so ziemlich genaus das schreiben, wurde aber wegen eines Notfalls gehindert.
Renegat hat geschrieben:Zum westl. Wertesystem ist in diesem Faden und anderswo viel gesagt worden. Aktuell wird zum wiederholten Male die Leitkultur diskutiert, obwohl keiner so genau sagen kann, auf was sich außer dem GG alle Bürger einigen könnten.
Just darum ist es eigentlich egal, ob deutsches Grundgesetz, französische Verfassung oder ob Danmarks Riges Grundlov = Grundgesetz des (König-)Reichs Dänemark“, oder ob die ja nicht existierende Verfassung Englands etc.- es sind inzwischen, immer in unterschiedlicher Organisation des System, gemeinsame Werte, zu denen ich mich in diversen Sprachen bekennen kann.
Was also gehört noch zur Leitkultur? Eben das ist die Frage, bei deren Beantwortung man gar leicht in Stereotype und Klischees gerät.
Was unterscheidet den Deutschen vom Franzosen, den Franzosen vom Engländer, den vom Dänen oder Spanier?
Klar, die Sprache. Tatsächlich und nicht zu unterschätzen, die Geschichte. Und andere Sitten und auch Denkweisen und Normen.
Das mögen zumindest vernünftige Europäer untereinander noch abgleichen können, wer von außen in diese Welt kommt, wird es schwerer haben.
Was seht ihr dagegen den westlichen Lebensstil?Und vor allem, wie wird der von außen gesehen oder von frisch angekommenen Flüchtlingen? Sehen die nicht zuerst die Glitzerwelt unserer Konsumtempel, die großen, neuen Autos, den Überfluss, auch die Verschwendung?
Ist ja das, was viele vorher kannten,bzw. wussten- und haben wollen.
Welchen Eindruck haben sie von unseren sozialen Strukturen,
Schon eine wesentlich schwierigere Frage, denn da spielt sich unser Leben eben völlig anders ab als es auch den Gebildeteren klar sein konnte.
unseren Großereignissen und was da wie gefeiert wird,
Tja, u.a. oft mit viel Alk. Müssen sie mit leben- das ist ein Teil deutscher und sonstiger europäischer Kultur. Zu der inzwischen eben auch Dinge gehören, die vor Jahrzehnten bei uns, noch länger in Spanien oder Portugal verpönt waren.
den Unterschieden zwischen arm und reich?
Klare Antwort eines Syrers: "Hier arm zu sein, bedeutet für andere Wohlstand. Da sehen viele nicht, dass es tatsächlich eine Schere gibt und deutsche Staatsbürger an den Verhältnissen in diesem Land gemessen, tatsächlich arm sind."
Westlicher Lebensstil? Sehr individualisiert. individualistisch. Dennoch nicht komplett unsozial und nur alle auf dem Ego-Trip.
Im Prinzip hat jeder Bürger und- bewusst- jede Staatsbürgerin breite Entscheidungsmöglichkeiten auf allen Ebenen, sein / ihr Leben zu gestalten. Wobei, das muss gesagt werden, vieles erst in den letzten Jahrzehnten denkbar, möglich und "normal" wurde oder noch dabei ist, normal zu werden.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Wallenstein

In puncto Leitkultur und Werten waren wir in der Diskussion doch schon weiter gewesen. Ich erinnere hier an meine Sätze:
Wallenstein
Der Begriff Kultur geht nun aber weit über das bloße Befolgen von Gesetzen hinaus, denn das diese für alle verbindlich sein müssen, das sollte selbstverständlich sein. In der Regel ist dies auch nicht das eigentliche Problem, sondern es geht um das Befolgen von sozialen Handlungen, die nicht rechtlich vorgeschrieben sind, deren Einhaltung aber aufgrund von Normen und Werten in einer bestehenden Gesellschaft erwartet werden.

Die Soziologen definieren Kultur als: Die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert Einstellungen.

Viele dieser Lebensformen sind gesetzlich nicht vorgeschrieben, deren Einhaltung wird aber dennoch erwartet.
Hier genau können die Probleme anfangen. In meinem Beitrag über den „Summer of Love 1967“ schrieb ich, das ich 1967 mehrere Monate in Australien gearbeitet habe, um meine Reisekasse aufzufüllen. Australien ist eine demokratische Gesellschaft wie wir, aber viele Dinge liefen anders ab.

Laxe Arbeitsmoral: Ich arbeitete auf einer Baustelle. Um Arbeit zu bekommen, musste man erst einmal einer Gewerkschaft beitreten, von denen gab es hunderte und die Funktionäre vermittelten dann die Stellen. Diesen Leuten musste man in den A.. kriechen, sonst gab es keinen Job. Gefiel mir überhaupt nicht. Wenn es zu heiß wurde, hieß es: Leute, wir machen Schluss, ist heute zu warm und alle gingen zu meinem Erstaunen einfach nach Hause. Mein Arbeitseifer und meine Arbeitsdisziplin gefielen den Kollegen überhaupt nicht, immer wurde ich ermahnt, nicht zu ehrgeizig oder zu fleißig zu sein.

Die Gewerkschaftsfunktionäre kamen auch öfters vorbei und verkündeten: Passt auf, wir streiken jetzt. Als ich nachfragte, hieß es: Auf einer anderen Baustelle gab es Ärger, wir solidarisieren uns mit denen. Das passte mir auch nicht, aber es war nicht ratsam, dagegen etwas zu sagen.

Machokult: Die Männer protzten mit ihrer Kraft und ihrem Alkoholkonsum. Die Kneipen hatten nur von 18.00 Uhr bis 21.00 Uhr geöffnet und am Wochenende gar nicht. In den drei Stunden wollten alle möglichst schnell besoffen werden und wer nicht genug trank, galt als Weichling. Man musste einfach mitmachen, sonst war man völlig unten durch bei den Kollegen. In den Kneipen gab es ständig Streit und Prügeleien. Die australischen Männer hauten sich gerne gegenseitig eins in die Fresse und wer das besonders gut konnte, war besonders angesehen. Auch eine Leitkultur, mit der ich mich nicht anfreunden konnte.

Freizeitkultur: Während bei uns die Arbeit besonders angesehen wird, ist es in Australien die Freizeit, vor allem der Schwimmsport und das Surfen. Hünenhafte, braungebrannte Männer mit gewaltigen Muskelpaketen spazierten am Strand entlang und wollten Eindruck schinden. Überall diese Kraftmeierei. Auch nicht mein Fall.

Kleidersitten: Die Männer trugen meistens kurze Hosen, was ich nicht mag. Das ich immer lange Hosen trug, wurde öfters missbilligt. Wollte man aber in Restaurants gehen, legte man plötzlich Wert auf ordentliche Kleidung (well suited). Lange Hosen, Hemd mit langen Ärmeln, Krawatte, auch bei brüllender Hitze. Wer nicht so gekleidet war, durfte nicht herein.

Frömmigkeit: Die Australier waren damals sehr fromm und gingen am Sonntag in die Kirche, wahrscheinlich aus Langeweile, denn sonst war nichts los. Meine Wirtsleute waren auch sehr fromm. Immer wurde gebetet. Dass ich mich nicht daran beteiligen wollte und auch nicht in die Kirche ging, erregte Anstoß.

Aus diesen wenigen Beispielen wird vielleicht deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, unter Menschen zu leben, die etwas anders gepolt sind als man selbst. Ich hatte aber nicht die Absicht, mich zu integrieren, wollte nicht jeden Abend saufen, anderen Leuten was in die Schnauze hauen, mit einem Surfbrett am Strand herumlaufen, jeden Sonntag in die Kirche gehen und bei jedem Essensgang beten. Ich hatte etwas andere Vorstellungen vom Leben, die diesen Leuten nun unverständlich waren.

"Kommst du nach Rom, tu, wie die Römer tun", so heißt es ja. Im Prinzip richtig, darf aber nicht zur Selbstaufgabe führen. Die Gesellschaften, auch in Australien, sind nach den Gesetzen zur Toleranz verpflichtet, aber Theorie und Praxis sind verschiedene Dinge.
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Wallenstein hat geschrieben:Aus diesen wenigen Beispielen wird vielleicht deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, unter Menschen zu leben, die etwas anders gepolt sind als man selbst.
Das ist, wenn auch weniger extrem, sicherlich richtig, manches ist gewöhnungsbedürftig, schon im europäischen Ausland, und mal gar, wenn man dort lebt und arbeitet. Vieles mag einem missfallen, aber zu verlangen, dass sich die Sitten und Gebräuche sich denen der Zuziehenden anpassen, geht nun auch nicht.
Der Wert der Arbeit als Lebensinhalt, als die große Definition im Leben ist vielleicht typisch deutsch, oder war es.
Freizeitkultur: Während bei uns die Arbeit besonders angesehen wird, ist es in Australien die Freizeit, vor allem der Schwimmsport und das Surfen. Hünenhafte, braungebrannte Männer mit gewaltigen Muskelpaketen spazierten am Strand entlang und wollten Eindruck schinden. Überall diese Kraftmeierei. Auch nicht mein Fall.
Rundherum Wasser ist nunmal ein Anreiz zum Sport, der auch mehr Spaß macht als Arbeit. schaulaufen der Art, die Du nicht schätzt, ist doch bei uns genauso zu finden. An Kiter- und Surferstränden sowieso, aber nicht nur dort... :mrgreen:
Andere Länder, andere Statussymbole, andere Schwerpunkte.
Könnte ich jetzt lange Listen schreiben. Und käme lustigerweise tatsächlich bei Klisches aus dem ganz realen Leben an.
Überraschungen nicht ausgeschlossen,, unsere französischen Nachbarn sind in mancherlei Hinsicht die besseren Preußen, und wo bei uns vieles liberal ist, herrscht dort strenge Disziplin und Hierarchie. Abgesehen von einer stillen Etiquette, die das soziale Leben so ganz anders regelt als es oberflächlich den Anschein hat.
Dann wieder ist das Leben viel lockerer, unkomplizierter, salopp gesagt, nicht über die Arbeit wird sinniert, sondern übers ganz normale Abendessen.
Lebe ich für begrenzte Zeit im Ausland, kann und muss ich das ein oder andere stirnrunzelnd hinnehmen, in Gesprächen zu solchen Themen kann man auch ganz neutral die Unterschiede definieren, ohne Bewertung.
Will ich im Land bleiben, gar Staatsbürger werden, muss ich sicherlich alles nicht alles mitmachen, nichtmal alles essen, seien es Schnecken oder Pferdebraten oder Schweinfleisch. Sich so zu separieren, dass man komplett und bewusst außerhalb der Landeskultur bleibt, zu fordern, dass diese allenthalben Rücksicht nehmen muss oder gar gegen diese anzugehen,- das geht nicht.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Antworten

Zurück zu „Innenpolitik“