200 Jahre Grimms Märchen

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Moderator: Barbarossa

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dieter
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Die Angst vorm bösen Wolf
Vor 200Jahren veröffentlichten die Brüder Grimm erstmals ihre Märchensammlung. Sie wurde das erfolgreichste Buch deutscher Sprache. Eine Erkundungsfahrt in unsere Seele.
Auch das "Rotkäpchen" enthält schwarze Momente(gefressen werden durch den Wolf) oder "Hänsel und Gretel" (ausgesetzt im Wald), die lösen sich, nach Beklemmung in einem Happy End auf, in diesem ewigen "Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen".
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Matussek
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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dieter
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Prunksucht wird verabscheut, Bescheidenheit gelobt, Fleiß gerühmt, Tapferkeit geadelt, ein christlicher Tugendkatalog. Und ja, es gibt eine himmlische Gerechtigkeit: Da ist das Strentalermädchen, noch sein letztes Hemd hergibt und und plötzlich von oben beschenkt wird mit einem goldenen Regen aus Talern.
Wir können uns die Gebrüder Grimm als Seelenärzte vorstellen, die sich über ihre Deutschen beugten in der Dämmerstunde, um ihren Urerzählungen abzulauschen, die Heldendramen, Angstträume, die Schauer aus Prüfungen und Fieber, und natürlich ihre Hoffnungen. Lauschen was allen gemeinsam ist.
Quelle: Der Spiegel, Matthias Matussek
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dieter
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Überall in Europa war damals, im 19.Jahrhundert, das nationale Fieber ausgebrochen, Befreiungskriege, Freiheitskämpfe, Menschenrechte - Kapital und Bürgertum drängten in eine nachfeudale Welt. Doch in Deutschland war der Wunsch nach nationaler Einheit, der ein linker Wunsch war, nur ein Traum.
In Deutschland, das nur ein märchenhafter Flickenteppich aus Königreichen, aus kleinen und kleinsten Fürsten- und Herzogtümern war, musste die Einheit der Nation über die gemeinsame Sprache, die Poesie hergestellt werden.
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Mattusek
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dieter
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Gut für die Poesie, schlecht für die Politik. Woanders bluteten Freiheitskämpfer, die deutschen Dichter und Denker hingegen eroberten das "Luftreich des Traums", wie Heinrich Heine schrieb.
Grimms Märchen und die deutsche Romantik, drauf hat sich die Welt geeinigt, sind das Deutsche schlechthin: so utopisch und sentimental, so romantisch, so zerklüftet, so mondscheinselig.
Was die Grimms beseelt, war ihr "Glaube an die Heiligkeit und Wahrheit der Kindermärchen", und sie fanden, nur "wenig andere können so reich an frischen, ewig jungen Tatsachen sein", Mit "Tatsachen" meinten sie Urerinnerungen und unauflösbare Schrecken, poetische Wahrheiten und verkapselte Träume.
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Matussek
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Peppone
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Im Grunde sind das alles keine "Volksmärchen". Als echte Romantiker strebten die Grimms danach, die "ursprünglichen" Märchen als "reine", von der Poetik, wie sie etwa die Klassiker propagierten unbeleckte Poesie zu finden. Die Märchen waren dnach der Theorie der Romantiker dieser ursprünglichen, unverfälschten Poesie noch am nächsten.
Als Theorie zuerst mal recht gut. Nur, was taten die Romantiker? Die jenen wie Wackenroder etwa dichteten neue Märchen, so, wie sie ihrer Auffassung nach einmal existiert hatten, aber durch dauerndes Weitererzählen dann verfälscht worden waren.
Die anderen wie die Grimms "sammelten". Doch die Grimms gehörten zu dem Zeitpunkt, als sie mit ihrem Sammeln begannen, schon zur besseren Gesellschaft von Kassel. Sie gingen nicht auf die Reise und hörten alten Weiblein zu, um deren Geschichten aufzuschreiben. Die Erzähler kamen zu ihnen und sonnten sich im Glanz der besseren Gesellschaft, wie eine Schneiderswitwe Dorothea Viehmann, die in einem Wirtshaus aufgewachsen war und dort von den Fuhrleuten viele Geschichten gehört hatte. Die erzählte sie nun den Grimms weiter. Belohnung: Diverse Einladungen zum Kaffee bei den Grimms.
Zu diesen Einladungen kamen auch Töchter aus einer der besseren Familien Kassels, oft mit hugenottischem Hintergrund, wie Marie Hassenpflug. Ergebnis: Viele Geschichte aus Grimms Sammlung haben französischen Hintergrund, Rotkäppchen etwa oder Frau Holle. Hier spielen Mädchen die Hauptrolle, Feen und Ähnliches. Auch der "Gesteifelte Kater" stammt von ihr.
Den "Eisernen Heinrich", den "Bärenhäuter" und andere, eher männlich geprägte Märchen, steuerte ein ehemaliger Offizier bei.
Viele Märchen wurden den Grimms auch aus der Kasseler Umgebung schrifltich zugeschickt. Das Projekt, aus ganz Deutschland die ursprüngliche Poesie zu sammeln, haben die Grimms daher nicht ganz so umgesetzt, wie sie behauptet haben. Denn tatsächlich stammen viele Märchen aus dem Hessischen oder aus dem Harzgebiet. Daneben gibt es auch viele Märchen, die aus Frankreich stammen; teilweise sind aber eben diese Märchen auch von woanders her erst nach Frankreich gekommen, z.B. aus Italien. So haben die Grimms also tatsächlich europäische Märchen gesammelt.

Immer aber wurden die Märchen von Jakob Grimm redaktionell bearbeitet, klar erkennbar an den Veränderungen zwischen erster und zweiter Auflage der Sammlung. Habt ihr euch schon mal gefragt, wo die vielen Stiefmütter herkommen? Die hat Jakob Grimm eingefügt, ursprünglich waren das alles Mütter. Das passte aber nicht zum Familienidyll der Grimms, also hat man aus pädagogischen Gründen Stiefmütter draus gemacht. Auch sonst stand der pädagogische Gedanke im Vordergrund. Egal, wie grausam uns die Märchen heute vorkommen mögen - die Grimms haben sie schon "entgrausamt". Dem Zeit der Geist entsprechend (vgl. den Struwwelpeter oder auch hohe Literatur wie Frankenstein oder Dracula, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden sind) dachte man, dass eine gewisse unheimliche Atmosphäre den Kindern nicht schaden könne, im Gegenteil erzieherisch wirken könnte.

So sind also die Grimm-Märchen auch nichts anderes geworden wie die "Kunstmärchen" der anderen Romantiker. Sie werden nur so erzählt, dass sie den Eindruck erwecken, wirklich alte Geschichten aus grauer Vorzeit zu sein, und in manchen Märchen erkennt man sogar noch die ursprünglichen Geschichten, wie z.B. bei Schneewittchen.

Und mittlerweile sind die Grimm-Märchen auch tatsächlich das geworden, was die Grimms von Anfang an von ihnen erwarteten: Gemeinsames Kulturgut aller deutsch sprechenden Menschen. Sie mögen zwar nicht die staatliche Einheit Deutschlands beflügelt haben - auch eine Absicht, die die Grimms verfolgten - aber sie führten doch dazu, dass die Deutschen das Bewusstsein haben konnten, beim abendlichen Gutenachtgeschichtenerzählen eine große Einheit zu sein... :wink:

Beppe
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dieter
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Lieber Beppe,
vielen Dank für Deine ausführliche Deutung der Grimms Märchen. :)
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dieter
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Die Brüder Grimm werden in eine fiebernde Zeit hineingeboren, als Kinder eines wohlhabenden Amtmannes in Hanau (Jakob 1785, Wilhelm 1786). Revolutionszeit in Frankreich, Hegel und Hölderlin tanzen in Tübingrn um den Freiheitsbaum.
Ihr Vater stirbt plötzlich, sie werden verarmt, zur Tante nach Kassel gegeben, wo sie die Gymnasialzeit im Schnellgang durchlaufen. Während ihrer Marburger Studienjahre steigt der Stern Napoleons. Europa hat einen neuen Dämon.
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Matussek
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Im Jahre 1806, als Napoleon in Jena und Auerstedt die alte Ordnung zerschlägt, beginnen die Brüdern Märchen zu sammeln. Die Parole: Sichern, was noch zu sichern ist an mündlicher Übetlieferung.
Die Grimms, was für ein Tandem. Aus Paris schreibt Jacob an Wilhelm: "Wir wollen uns einmal nie trennen". Und so werden sie es halten ein Leben lang.
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Matussek
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ehemaliger Autor K.

Aus heutiger Sicht stellen Kinder bei dem Märchen Rotkäppchen immer die gleichen Fragen:

Wieso hat sie eine rote Kappe auf? Gehört sie zu der „LINKEN“? Besucht sie das Ulrike Meinhof Gymnasium?

Woher kommt der Wolf? Wir haben doch keine mehr. Aus Osteuropa? Also ein Wolf mit Migrationshintergrund? Will er um Asyl suchen?

Wieso wohnt die Großmutter im Wald? Gibt es kein betreutes Wohnen oder ein Pflegeheim?

Warum bringt Rotkäppchen ihr das Essen? Gibt es kein Essen auf Rädern?

Es wird höchste Zeit, dieses Märchen einmal grundlegend zu modernisieren.
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dieter
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Karlheinz hat geschrieben:Aus heutiger Sicht stellen Kinder bei dem Märchen Rotkäppchen immer die gleichen Fragen:

Wieso hat sie eine rote Kappe auf? Gehört sie zu der „LINKEN“? Besucht sie das Ulrike Meinhof Gymnasium?

Woher kommt der Wolf? Wir haben doch keine mehr. Aus Osteuropa? Also ein Wolf mit Migrationshintergrund? Will er um Asyl suchen?

Wieso wohnt die Großmutter im Wald? Gibt es kein betreutes Wohnen oder ein Pflegeheim?

Warum bringt Rotkäppchen ihr das Essen? Gibt es kein Essen auf Rädern?

Es wird höchste Zeit, dieses Märchen einmal grundlegend zu modernisieren.
Lieber Karlheinz,
finde ich nicht. Rotkäppchen hat ein rotes Käppchen auf, weil in der Schwälmer Tracht (Nordhessen) unverheiratete Mädchen ein rotes Käppchen aufhatten. Der Wolf wurde vor rund 150 Jahren in Deutschland ausgerottet und kommt nun Gott sei Dank wieder. Es gab schon einen Wolf in Nordhessen im Rheinhards Wald wieder, wo auch die meisten Märchen spielen. Es gab noch kein betreutes Wohnen und ein Pflegeheim, die Kinder und Enkelkinder mußten sich um ihre Alten kümmern. Natürlich gab es kein Essen auf Rädern. :wink:
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Ob in Kassel oder in Göttingen oder später in Berlin, sie arbeiten Tür an Tür. Als ihnen der Junggesellenhaushalt über den Kopf wächst, beschließen sie zu heiraten. Eine Frau muß ins Haus. Die Wahl fällt auf Dorothea "Dortchen" Wild, die Apothekerstochter, die ihnen Märchen lieferte. Wilhelm wird sie heiraten, fortan leben sie zu dritt, mit einer wachsenden Schar von Kindern.
Quelle: Der Spiegel, von Matthias Matussek
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Barbarossa
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Karlheinz hat geschrieben:Aus heutiger Sicht stellen Kinder bei dem Märchen Rotkäppchen immer die gleichen Fragen:

Wieso hat sie eine rote Kappe auf? Gehört sie zu der „LINKEN“? Besucht sie das Ulrike Meinhof Gymnasium?

Woher kommt der Wolf? Wir haben doch keine mehr. Aus Osteuropa? Also ein Wolf mit Migrationshintergrund? Will er um Asyl suchen?

Wieso wohnt die Großmutter im Wald? Gibt es kein betreutes Wohnen oder ein Pflegeheim?

Warum bringt Rotkäppchen ihr das Essen? Gibt es kein Essen auf Rädern?

Es wird höchste Zeit, dieses Märchen einmal grundlegend zu modernisieren.
Ich denke auch, Kinder können schon die damalige von der heutigen Zeit auseinanderhalten, zumal es ja am Anfang immer heißt: "Es war einmal..." oder "Vor langer Zeit..."
Aber es ist eigentlich etwas ganz anderes der Fall: Märchen werden von heutigen Jugendlichen konsequent und geschlossen verschmäht. Das war eigentlich auch zu meiner Jugendzeit bereits der Fall, daß man sich zu alt dafür fühlte und damit nichts in Sinn hatte. Und wenn man sie mit 14, 15, 16 schon nicht so mochte, liest man sie auch den eigenen Kindern nicht vor.
Das ist wohl eher die Realität in Deutschland. (und sicher nicht nur hier)
Die Diskussion ist eröffnet!

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RedScorpion

Märchen sind ja auch nicht zum (Selbst-)Lesen da, sondern zum Vorlesen bzw. im Idealfall Erzähltbekommen. Und da sind 15jährige freilich off-target.

Moderne Versionen gibt's im Uebrigen. Ich kann mich an Versionen mit Zeichnungen von Ungerer erinnern (oder war's Janosch?).


LG
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Peppone
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RedScorpion hat geschrieben:Märchen sind ja auch nicht zum (Selbst-)Lesen da, sondern zum Vorlesen bzw. im Idealfall Erzähltbekommen. Und da sind 15jährige freilich off-target.

Moderne Versionen gibt's im Uebrigen. Ich kann mich an Versionen mit Zeichnungen von Ungerer erinnern (oder war's Janosch?).


LG
Du hast recht. Kinder lieben im Allgemeinen Märchen - wen sie sie erzählt bzw. vorgelesen bekommen. Die Bilder sind den Kindern ganz wichtig!
Bei modernisierten Versionen werden die meisten Kinder allerdings streiken. Wehe, der Papa liest einmal ein Wort (!) anders. Dann wird sofort berichtigt. Und die altertümliche Atmosphäre, die die Märchen allein schon wegen ihrer eigentümlichen Sprache haben, ginge verloren, wenn man den Wolf durch etwas anderes ersetzt...wodurch eigentlich? Einen Ork? Oder einen Oger? Dann würde man ein Märchenelement durch ein anderes ersetzen, das kann´s ja nu auch nicht sein.
Das derzeit gefährlichste Tier unserer Wälder ist das Wildschein. Das frißt allerdings keine Menschen. Der Fuchs wäre ein Raubtier, ist allerdings am gefährlichsten für den Menschen als Überträger der Tollwut. Interessante Vorstellung: Der Fuchs tritt vor die Großmutter und droht ihr, sie mit Tollwut anzustecken...achso, im modernen Märchen sprechen Tiere ja nicht...was bleibt?
Aus einem Märchen eine Reality-Doku zu machen. Dann ist es allerdings kein Märchen mehr und man kann sich das Ganze sparen...

Beppe
ehemaliger Autor K.

Seit einiger Zeit gibt es Bestrebungen, die Märchengestalten zu neuem Leben zu erwecken. Ich meine hiermit die Wiederansiedelung von Wölfen und Bären in unseren Wäldern.

Ich halte das für keine gute Idee, denn ich bin eigentlich froh, dass es sie bei uns nicht mehr gibt. Wird der geruhsame Waldspaziergang am Sonntag nun zu einem Survivaltrip? Muss man sich auf den Kampf mit mordlustigen Bestien einstellen?

Es heißt ja immer, diese Tiere seien harmlos für Menschen und sie würden ihnen aus dem Weg gehen. Aber von dem Hund meiner Nachbarin sagte man auch immer, er beißt nicht, aber er tut es trotzdem. Selbst wenn nur einmal etwas passieren sollte, ist dies genau einmal zu viel. Warum also so etwas riskieren?
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