Todesstrafe in der Schweiz, immer wieder ein Thema

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Orianne
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In den vergangenen Jahren ist durch Volksinitiativen selektiv ins Strafrecht eingegriffen worden. Dazu gehört die Verwahrungs-Initiative, die Abstimmung über die Unverjährbarkeit von Sexualdelikten an Kindern und im weiteren Sinne auch die Ausschaffungs-Initiative. Dass der Souverän zu strafrechtlichen Fragen an die Urne gerufen wird, ist nicht neu. Im 19. Jahrhundert kam es mehrfach zu Abstimmungen über die Todesstrafe.

Mit der neuen Bundesverfassung von 1874 wurde die Todesstrafe auf dem gesamten Gebiet der Schweiz verboten. Damit lag die Schweiz im Trend. Kurz zuvor hatten etwa Portugal 1867 und Holland 1870 die Todesstrafe aus dem Strafgesetz gestrichen. Die Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung warf punkto Todesstrafe keine grossen Wellen, denn es ging um ganz andere staatspolitische Grundsatz­fragen. Nachdem die revidierte Bundesverfassung aber in Kraft getreten war, konzentrierte sich das öffentliche ­Augenmerk plötzlich auf dieses in ­Artikel 65 der Bundesverfassung ver­ankerte Verbot. Die Verfassung von 1848 ­hatte lediglich die Todesstrafe für ­politische Delikte verboten.

Todesurteile nicht vollstreckt

Seit 1868 war indessen in der Schweiz kein einziges Todesurteil vollstreckt worden. Nun kam es nach 1874 eigenartigerweise zu einer von keiner Seite bestrittenen Zunahme der Kriminalität. Von 1874 bis 1878 verurteilten die Gerichte 56 Personen wegen Mordes, 96 wegen Totschlags, 60 wegen Kindsmords und 15 wegen Brandstiftung. Eine der Ursachen für die zunehmende Kriminalität waren eine Wirtschaftskrise in den frühen 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts und «ein verbreiterter Notstand der unteren Klassen». Auch die Selbstmordrate war gestiegen.

Die Exportindustrie brach nach 1873 in der Schweiz regelrecht ein. ­Betroffen waren vorab vorallem die Uhren- und die Seidenindustrie. Schliesslich kam die Eisenbahnkrise 1878 dazu. Die wirtschaftlichen Nöte der Bevölkerung gingen mit der Angst vor Kriminalität einher.

Die massive Zunahme der Verur­teilungen wegen Mord mag aber auch damit begründet gewesen sein, dass nach dem Verbot der Todesstrafe die Richter nicht automatisch über die Hinrichtung eines Angeklagten entscheiden mussten. Das Wegsperren ins Gefängnis verursachte möglicherweise weniger Gewissensbisse.

Petition für die Todesstrafe

Die Stimmung war aufgeheizt und einige schreckliche Mordfälle, die auch publizistisch über die jeweiligen Kantonsgrenzen hinausgetragen wurden, führte schliesslich zu einer Volkspeti­tion für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Schweiz. Eine Volksinitiative auf Partialrevision der Bundesverfassung war damals (bis 1891) noch nicht möglich. Das Interesse für die ­Petition war riesig. Im Kanton Waadt unterschrieben mehr als 12'800 Personen, in Freiburg über 7000 und in St. Gallen fast 6000. Im Kanton Zürich waren es nur 458.

An die Spitze der Bewegung stellte sich der Schaffhauser Ständerat Hermann Freuler (1841–1903). Gestützt auf diese Petition, verlangte er im Parlament die Wiedereinführung der Todes­strafe und der Prügelstrafe. Die Petition war zwar rechtlich nicht verbindlich und einer Totalrevision wollte man die soeben erlassene Bundesverfassung nicht wegen einer einzelnen Frage – auch nicht wegen der Todesstrafe – unterziehen. Dieses Problem konnte ­Ständerat Freuler rasch aus der Welt schaffen, indem er zum parlamentarischen Mittel einer Motion zur Wiedereinführung der Todesstrafe zurückgriff.

Bundesrat lehnt Wiedereinführung ab

Der Bundesrat lehnte eine Änderung der Verfassung und somit die ­Wiedereinführung der Todesstrafe ab. Er bestritt nicht, dass es in den letzten Jahren zu einer Zunahme der Verur­teilung wegen Mord gekommen sei, negierte aber die abschreckende Wirkung der Todesstrafe. Ohnehin könne die fünfjährige Periode seit 1874 kein ­relevantes statistisches Material liefern. Freuler behauptete, die Abschaffung der Prügel- und Todesstrafe sei «unserer christlichen Religion» zuwider. Überdies seien die Gefängnisse «überall auf Kosten gutgesinnter Bürger über­mässig» voll. Die Zahl der Verbrecher nehme von Jahr zu Jahr zu.

Die Ständeratskommission war sich uneins: Vier Standesherren stimmten für die Wiedereinführung, drei dagegen. Freuler als Berichterstatter der Kommissionsmehrheit führte aus, die am 19. April 1874 angenommene Verfassung sei «nicht wegen, sondern trotz des Artikels 65» mit 340'000 Ja- gegen 198'000 Nein-Stimmen angenommen worden. Überdies rügte man den Bundesrat, der die Zunahme der Kriminalität unter anderem mit dem «Notstand der Trunkenheit» begründete. Es gebe überall Armenbehörden, Pflegean­stalten, Waisenhäuser und Spitäler. Suppenanstalten seien wie Pilze aus der Erde geschossen. Bald jeder Fabrikherr baue Arbeiterwohnungen. Unverschuldete Not sei nie Anlass für Mord. Letzterer resultiere aus «Hass, Eifersucht, Habgier, Genusssucht, Arbeitsscheu, ungezügeltem Geschlechtstrieb».

Druck von der Strasse

Angeführt wurden verschiedene ­Tötungsfälle wie der Mord des Josef Wittlin im solothurnischen Kienberg oder der berühmte Gefangenenausbruch von 1876 aus der Basler Strafanstalt Schällemätteli. Die schrecklichen Kriminalfälle dienten mehr der Stimmungsmache als einer sauberen Analyse. Viele Kantone, darunter Basel-Stadt, Baselland und Zürich, hatten die Todes­strafe bereits vor 1874 abgeschafft. Insofern waren diese Beispiele nicht besonders relevant, denn nach wie vor sollte das Strafrecht in der Kompetenz der Kantone bleiben.

Im Nationalrat versuchten die Gegner der Todesstrafe mit Nichteintretens- oder Verschiebungsanträgen die Angelegenheit vom Tisch zu bekommen, aber der Druck der Strasse liess keine Verzögerung mehr zu. Das Parlament beschloss, eine Volksabstimmung abzuhalten. Die Stimmbürger sprachen sich am 18. Mai 1879 mit 200'485 Ja- gegen 181 598 Nein-Stimmen für die Todes­strafe aus. Der Kanton Basel-Stadt verwarf die Vorlage mit 3481 Nein gegen 2359 Ja, der Kanton Baselland mit 3732 Nein gegen 3238 Ja. Angenommen wurde die Vorlage in zwölf Kantonen und vier Halbkantonen. So war auch das Ständemehr zur Verfassungsänderung gegeben.

Wiedereinführung in zahlreichen Kantonen

Somit wurde der vor 1874 geltende Zustand wieder hergestellt, denn ein eidgenössisches Strafgesetzbuch bestand noch nicht. Verboten war in den Kantonen lediglich die Todesstrafe für politische Verbrechen. In der Folge führten die Kantone Appenzell Inner­rhoden, Uri, Zug, Schwyz, St. Gallen, Wallis und Luzern die Todesstrafe ­wieder ein. Hierbei kam es nun zu kantonalen Abstimmungen, in der die grundsätzliche Thematik wieder neu aufgerollt wurde. In Schaffhausen musste Ständerat Freuler sein gesamtes politisches Gewicht einbringen, um in der Volksabstimmung von 1893 eine Mehrheit für die Todes­strafe zu ge­winnen. Allerdings hat der Kanton Schaffhausen anschliessend kein einziges Todesurteil vollstreckt.

Der Kanton Freiburg war der erste Kanton gewesen, der 1848 die Todes­strafe vollumfänglich abgeschafft hatte. Nach einem schrecklichen Mord in Neyruz kippte die Stimmung und die Todesstrafe wurde 1894 wieder eingeführt. Zahlreiche Kantone, darunter Basel-Stadt, Baselland, blieben bei einem Strafrecht ohne Todesstrafe. Besonders umstritten war die Frage im Kanton Zürich. Bereits 1883 wurde ein kantonales Volksbegehren eingereicht, in dem die Initianten die kantonale Wiedereinführung der Todesstrafe verlangten. Obwohl die ­eidgenössische Abstimmung 1879 in Zürich ein klares Resultat von 19'243 Ja- gegen 46'460 Nein-Stimmen gebracht hatte.

Hin und her in Zürich

Die Initianten versuchten taktisch geschickt einen Verfassungstext vorzulegen, in dem von humanen Grundsätzen des Strafrechts die Rede war und die Todesstrafe «nur in Fällen von ­vorsätzlicher Tötung zur Anwendung kommen» dürfe. In Umkehrung der fünf Jahre zuvor durchgeführten eidgenössischen Abstimmung, stimmte das Zürcher Stimmvolk dem allgemein formulierten Volksbegehren nun plötzlich mit 28'600 Ja- gegen 25'330 Nein-Stimmen knapp zu. Nun hatte der Kantonsrat einen Verfassungstext vorzulegen. Dieser unterbreitete dem Volk einen ab­geänderten Artikel, in dem die Todes­strafe bei Mord vorgesehen war. Gleichzeitig wurde die Verwerfung dieses ­abgeänderten Verfassungsgrundsatzes beantragt. In der Volksabstimmung vom 5. Juli 1885 wurde das Ergebnis wieder umgekehrt und 27'577 Nein- gegen 21'377 Ja-Stimmen führten schliesslich zur definitiven Ächtung der Todesstrafe in Zürich.

Die Rolle Zürichs war von Bedeutung, da die letzte Hinrichtung (gemäss dem zivilen Strafrecht) 1940 auf ein ­Tötungsdelikt im Kanton Zürich zurückging. Der Täter erschoss später bei der Festnahme in Obwalden einen ­Polizisten. Das Auslieferungsbegehren ­Zürichs wurde abgelehnt, da man dort die Todesstrafe nicht kannte.

Für zivile Straftaten abgeschafft

Aus den beiden Basel sind keine nennenswerten Vorstösse zur Wiedereinführung bekannt, jedenfalls haben keine Volksabstimmungen zur Wiedereinführung der Todes­strafe durchgeführt werden müssen. Mit der Volks­abstimmung vom 3. Juli 1938 über die Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuches wurde die Todesstrafe ausserhalb der militärischen Zuständigkeiten wieder abgeschafft. Wie bereits bei der Bundesverfassung 1874 wurde die Thematik aber nicht einzeln dem Stimmvolk vorgetragen, sondern es ging um das Strafgesetzbuch als Ganzes. Das Strafgesetzbuch trat erst am 1. Januar 1942 in Kraft, weswegen der Kanton Obwalden am 18. Oktober 1940 das letzte Todesurteil noch nach kantonalem Recht vollstrecken konnte.

Die Debatten und Abstimmungen über die Todesstrafe wurden teilweise sehr heftig und emotional geführt. Verständlicherweise liess sich das Stimmvolk durch schwere Verbrechen be­einflussen. Lagen solche Delikte eher weiter zurück, hielt man die Todesstrafe auch im 19. Jahrhundert für inhuman. Gab es schreckliche Verbrechen, so erregte dies die Gemüter.

Hans Vollenweider starb durch das Fallbeil am 18. Oktober 1940

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Hans Vollenweider im Gerichtsaal während seiner Verhandlung (Bild aus meiner Sammlung)

Hans Vollenweider wollte nicht sterben. Aber sein Begnadigungsgesuch wurde abgelehnt. Am 18. Oktober 1940 beförderte das Fallbeil den drei­fachen Mörder in der Strafanstalt von Sarnen vom Leben in den Tod. Der 32-jährige Zürcher erschoss 1939 innerhalb von zehn Tagen einen Chauffeur, einen Briefträger und einen Polizisten. Mehr als 500 Freiwillige meldeten sich als Scharfrichter, darunter Metzger, Ärzte und Rechtsanwälte; das Fallbeil auslösen durfte schliesslich ein Hotelportier aus Baden. Vollenweider war der letzte Verbrecher, der nach einem zivilen Strafprozess in der Schweiz hingerichtet worden ist. Zweieinhalb Monate später war die Todes­strafe in der Schweiz abgeschafft.

Das Volk hiess am 3. Juli 1938 mit 53,5 Prozent Ja-Stimmen eine Revision des Strafgesetzes gut, in der die Todesstrafe nicht mehr vorgesehen war. Aber das Gesetz trat erst am 1. Januar 1942 in Kraft. Das Todesurteil gegen Vollen­weider war darum umstritten, sogar die Witwe des von Vollenweider erschossenen Polizisten setzte sich für die Begnadigung Vollenweiders ein.
Sie schrieb als gläubige Christin ein Gnadengesuch an den Kantonsrat (Landestag in Deutschland), doch man wollte den Kopf von Vollenweider rollen sehen, weil er zwei Leute ermordete, beim Polizisten war es Totschlag aus heutiger Sicht. Bei der Beerdigung kamen aus der ganzen Schweiz Polizisten um ihrem Kollegen das letzte Geleit zu geben.

Vollenweider war ein Kind der Wirtschaftskrise, der durch unglückliche Umstände kriminell wurde, ausserdem war er ein Waffennarr, eine Kombination die ihn schliesslich auf das Schafott brachten.

Quellen: TA, Basler Zeitung und eingene Aufzeichnungen.

Kriminalfälle,die die Schweiz bewegten - Hans Vollenweider-Die letzte zivile Hinrichtung (SF 2007)

http://www.youtube.com/watch?v=uHbsdA0G8ME
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Orianne
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Das alte Zuchthaus von Zug wurde 2001 abgerissen. Hinter den dicken Mauern haben zahlreiche Insassen ihre Strafen verbüsst. Der prominenteste Häftling war der 25-jährige dreifache Mörder Paul Irniger, der am 25. August 1939 im Hof der Strafanstalt mit der Guillotine hingerichtet wurde. Irniger hatte 1933 einen Taxichauffeur zwischen Baar und Walterswil ermordet. 1937 erschoss er einen Polizisten in Rapperswil. Und am Tag der Bluttat verletzte er einen Fahrer, der ihn verfolgt hatte, mit weiteren Schüssen tödlich. Die Leidensgeschichte des Mörders hat der Schriftsteller Pil Crauer nachgezeichnet und zu einer Hörfolge verarbeitet, die auf Betreiben der Heimatgemeinde des Hingerichteten bis heute nicht ausgestrahlt werden konnte.

Irnigers kurzes Leben war unstet. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater. Er wurde früh unter Vormundschaft gestellt, war Zögling im Kinderheim Walterswil in Baar. Mehrmals versuchte er ins Kloster zu ziehen, denn Klöster erschienen dem frommen Jüngling als Refugien vor einer feindlichen Aussenwelt. Schon als 15- Jähriger wollte er bei den Kapuzinern auf Rigi- Klösterli unterkommen, die ihn nach einiger Zeit wegschickten. Danach machte er einen Anlauf im elsässischen Kloster Oelenberg, wo er einige Zeit blieb und wegen körperlicher Schwäche weggewiesen wurde. Bei Brown-Boveri in Baden arbeitete er kurze Zeit für 53 Rappen Stundenlohn als Hilfsarbeiter. Eine Lehre als technischer Zeichner brach er nach ein paar Monaten wegen Streits mit einem Lehrer ab. Mit 17 Jahren war Irniger zum Dieb und Landstreicher geworden.

Er fälschte das Geburtsdatum im Pass, liess sich Koteletten wachsen und fand als angeblich Zwanzigjähriger eine Anstellung im Hotel Beau- Rivage in Interlaken. Dort legte er einen Brand. Es war kein grosses Feuer, niemand kam zu Schaden. Nach der Verhaftung versuchte er erneut im Kloster unterzukommen, wurde aber abgewiesen. Er vagabundierte herum, kam bei seiner Schwester unter, beging kleinere Betrügereien und landete in der Zwangserziehungsanstalt Aarberg. Dort lernte er den Beruf des Schreiners. Sein Hang für philosophische Werke und seine überdurchschnittliche Intelligenz fielen den Vorgesetzten auf. Irniger berauschte sich an der Lektüre von Nietzsche und Plato. Nach der Entlassung absolvierte er mit Erfolg die Rekrutenschule in Luzern.

Raubmord in Baar

Mit 20 Jahren beging Irniger einen ersten Mord, der jahrelang ungesühnt blieb. Er kaufte sich ein Bahnbillett nach Zug, nahm am Bahnhof Zug ein Taxi und liess sich zweimal zum Kinderheim Walterswil in Baar fahren, wo er auch die Kirche besuchte. Auf der Rückfahrt griff Irniger zur Waffe und erschoss den Taxifahrer von hinten. Nach dem Raubmord floh er mit 60 Franken. Kurz darauf stiftete ihn seine Mutter, die selber zu eineinhalb Jahren Arbeitshaus verurteilt worden war, zu Betrügereien an. Nach einem Heiratsschwindel betrog er zusammen mit der Mutter einen Knecht im Freiamt, dem sie Wertpapiere abnahmen.

Irniger floh aus der Strafanstalt Sedel in Luzern, in die er eingewiesen worden war. Als falscher Mönch hielt er sich im Kloster Einsiedeln auf. Er spielte einen Priester, las Messen auf Lateinisch und nahm Beichten ab. In der Klosterschneiderei erhielt er sogar eine echte Soutane, ein Tonsurkäppi und eine Pelerine. Bevor die Sache aufflog, zog er ins Urnerland weiter. Nach weiteren Stationen wurde er in Brig von zwei echten Priestern entlarvt. Immer tiefer versank er im Teufelskreis neuer Einbrüche und neuer Betrügereien. Bei jedem Mal wurde die Spirale enger. Verzweifelt bemühte er sich jeweils für kurze Zeit um einen anständigen Lebenswandel. Im Tessin lernte er eine zwölf Jahre ältere Frau kennen. Er versuchte sich als Staubsaugerverkäufer. Die Geschäfte liefen schlecht, er stellte falsche Rechnungen aus. Insgesamt vier Jahre trieb er sich in der Schweiz als Vagabund herum.

Doppelmord in Rapperswil

Nach einem Diebstahl in einer Kirche in Egg (Zürich) und einem weiteren in einem Wochenendhäuschen in Hurden am Obern Zürichsee wurde Irniger im Sommer 1937 entdeckt. Ein Optiker in Rapperswil, dem Irniger Diebesbeute zur Beurteilung zeigte, schöpfte Verdacht und alarmierte die Polizei. Irniger wurde in Rapperswil verhaftet. Als er in die Arrestzelle des Polizeipostens geführt wurde, zog er eine Pistole, die nicht entdeckt worden war. Im Handgemenge gab er drei Schüsse ab. Ein Polizist wurde tödlich verletzt. Irniger floh zum See, verfolgt von Passanten. Ein Gewitter brach los, Sturmglocken läuteten. Einem Berufschauffeur gelang es, Irniger auf einem Rad einzuholen. Irniger schoss erneut, der Fahrer starb später an inneren Verletzungen durch einen Bauchschuss. Im Städtchen Rapperswil war kaum die Todesnachricht des Polizisten bekannt geworden, als die neue Schreckensnachricht vom zweiten Toten eintraf. Irniger wurde überwältigt und nach St. Gallen übergeführt, wo er auch den früheren Mord von Baar gestand.

Damit hatte Irnigers Verbrecherlaufbahn ihr Ende gefunden. Der Doppelmörder von Rapperswil, der Raubmörder von Baar, der Brandstifter im Jugendalter und vielseitige Schwerverbrecher wurde in St. Gallen im April 1938 vom Gericht zum Tode verurteilt, aber vom St. Galler Grossen Rat zu lebenslangem Kerker begnadigt. Dabei spielte eine Rolle, dass das neue Schweizerische Strafgesetzbuch, über dessen Einführung das Volk zwei Monate später abstimmen sollte, keine Todesstrafe mehr vorsah. Doch erst mit dessen definitiver Einführung 1942 verschwand die Todesstrafe landesweit.

Noch musste über Irnigers ersten Mord in Baar geurteilt werden. Bis dahin sollte mehr als ein Jahr vergehen. Die Aufmerksamkeit für den Fall war in der ganzen Schweiz riesig. Noch grösser wurde sie, als kurz vor Prozessbeginn im Breitholz bei Baar Hans Vollenweider einen Taxifahrer erschoss, kaum 200 Meter von der Stelle entfernt, an der Irniger getötet hatte. Es gab noch mehr Parallelen: Vollenweider hatte ebenfalls drei Morde auf dem Gewissen, darunter an einem Chauffeur und einem Polizisten, und wurde später hingerichtet, 1940 in Sarnen. Die Hinrichtung im Obwaldner Hauptort war die letzte Hinrichtung in der Schweiz (ausser den auf Militärstrafrecht basierenden Hinrichtungen von Landesverrätern im Zweiten Weltkrieg).

Sonderbund der Köpfenden

Von den 47 Hinrichtungen, die seit der Gründung des Bundesstaates nach zivilem Strafrecht ausgeführt wurden, entfallen 38 auf die Periode vor dem Verbot durch die Verfassungsrevision von 1874. Neun Personen wurden nach der Ermächtigung der Kantone von 1879, die Todesstrafe wieder einzuführen, hingerichtet, davon sechs erst im 20. Jahrhundert. Sie entfielen alle auf katholisch-konservative Stammlande, welche die Todesstrafe wieder eingeführt hatten, nämlich vier auf Luzern (zwei 1892, je eine 1909 und 1915), je eine auf Schwyz (1894), Freiburg (1902), Uri (1924), Zug (1939) und Obwalden (1940), ein blutiger Sonderbund der Köpfenden. Alle diese Enthauptungen wurden mit der Guillotine des Kantons Luzern ausgeführt, weil nur noch Luzern ein funktionierendes Schafott besass, das sich heute im Historischen Museum Luzern befindet.

Freiwillige als Scharfrichter

Das Zuger Kantonsgericht entschied wie jenes von St. Gallen bei Irniger auf Todesstrafe, was auch der Volksmeinung im Kanton Zug entsprach. Auf einem vor dem Prozessbeginn aufgenommenen Foto sieht man Irniger: Er war schlank, blond, mit feinen Gesichtszügen, wie ein verträumter Student. Er entsprach keineswegs dem landläufigen Bild, das man sich von einem Schwerverbrecher machte. Irniger wollte gegen die Todesstrafe nicht appellieren. Er wollte sich nicht mehr vor sich selber schämen und stellte auch kein Gnadengesuch: «Ich bin bereit, den Opferweg der Vollsühne zu gehen.» In Zug meldeten sich innert weniger Tage 75 Männer freiwillig als Scharfrichter, vor allem aus dem Kanton Zürich. Die Guillotine wurde vom Luzerner Justizdepartement ausgeliehen. Am frühen Morgen des 25. August 1939 wurde Irniger im Hof der Strafanstalt geköpft. Der Stadtrat von Zug erklärte sich erst nach Widerstand und widerwillig dazu bereit, Irniger auf dem Friedhof Zug begraben zu lassen.

Quellen: Pil Crauer: Das Leben und Sterben des unwürdigen Dieners Gottes und mörderischen Vagabunden Paul Irniger, Basel, 1983, eigene Aufzeichnungen.
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Triton
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Ein Verwandter von mir (ich kannte ihn nicht näher) wurde ebenfalls Opfer eines Mehrfachmörders. Der Fall wurde sogar durch eine Verfilmung bundesweit bekannt obwohl immer falsch als "Hammermörder" bezeichnet, mein Verwandter starb durch eine Kugel in den Kopf.

http://www.landesarchiv-bw.de/web/45446

Der Täter war ein völlig kaltblütiger, skrupelloser und gleichzeitig unglaublich dummer Polizist, der nur mordete, um für kurze Zeit an ein Auto zu kommen. Er lauerte auf Wanderparkplätzen seinen Opfern auf und gab sich (wohl) als Polizist im Dienst aus, den Opfern setzte er die Pistole teilweise zwischen die Augen auf die Stirn und drückte ab. Mein Verwandter war sein drittes Opfer.
Mit dem erbeuteten Auto fuhr er dann zu einer Bank und forderte mit einem großen Vorschlaghammer in Händen Geld. Daher der Name "Hammermörder". Der Polizei unterliefen zahlreiche Fahndungspannen, selbst die waffentechnische Untersuchung ergab keine Suche im Kollegenkreis.
Kein Wunder, schließlich war der Mörder auch äußerst dumm und konnte lediglich mit Pistole und Uniform arglose Wanderer erschießen, passte also zu seinem damaligen Arbeitzgeber.

Nachdem man ihm endlich auf die Spur gekommen war, ergriff der verschuldete Polizist die Flucht, nicht ohne zuvor Frau und Sohn auch noch zu töten. Mit seinem letzten Kind in Italien beging er Selbstmord, sein letztes Kind hatte er vorher erschossen. Alle Morde aus kurzer Distanz, regelrechte Hinrichtungen.

Seitdem ergriff die Verwandtschaft jedesmal Panik, sobald eine Polizeiuniform auftauchte, weil dort offenbar selbst schießwütige Psychopathen jahrelang nicht auffallen und mit sich mit Munition und Waffen versorgen können. Ich hoffe, es hat sich seitdem etwas in der Richtung getan.

Ich für mich habe nur die Konsequenz gezogen, mich von Polizisten, die alleine auftreten, weit fern zu halten. Da stimmt dann etwas nicht.

Dagegen sind die schweizer Fälle natürlich beinahe Kindergarten, übliche Raubmorde. Was wohl in solchen Fällen wie dem Hammermörder damals passiert wäre?
Beide schweizer Mörder hatten den Wehrdienst absolviert, konnten also mit Waffen umgehen. Bei der hohen Verbreitung von Waffen in der Schweiz ein Wunder, dass so wenig passiert ist.

Motiv war in beiden Fällen Geld. Nicht gar so verkorkste Leben wie das des Polizisten im Großraum Stuttgart, und nicht gar so skrupellos, vor Frauen und Kindern schreckten die Mörder offenbar zurück. Auch waren die Morde keine regelrechte Hinrichtung.
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Triton
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Heute erst wieder ein neuer Sendebeitrag zum "Hammermörder" in BaWü:
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/ ... r%E2%80%9C

Angeblich hatte Poehlke weniger Einkommen als er insgesamt an Zins und Tilgung leisten musste. Keine Ahnung, warum man nicht in den 7 Monaten zwischen der Feststellung der Herkunft der Munition und dem Mord an meinem Verwandten nicht auf Poehlke kam, wenn es darum ging, einen Polizisten im Großraum Stuttgart mit Motiv zu ermitteln. Beschäftigt ganz offensichtlich auch heute noch den zuständigen Beamten.
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Orianne
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Ich habe mir den Film bei Youtube angeschaut, es ist schier unglaublich mit welcher Brutalität dieser Mann vorging, die Schuld liegt meiner Meinung nach bei den Banken (und ihm), die ihm Geld gegeben hatten, und er, wie Du schreibst Triton, es nicht schaffte (konnte er auch nicht) mit seiner grossen Familie die Zinsen und die Tilgung zu bezahlen. Er konnte auch laufend von den Pannen profitieren, wenn man bedenkt, dass daran 7 Menschen starben, dann wird mir ganz anders.....
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Balduin
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Die Todesstrafe ist gefährlich: Mit der richtigen Kampagne kann in einer (Volks)Abstimmung das Ergebnis stark beeinflusst werden, weil die Thematik sehr emotionsgeladen ist.

In Amerika ist die Todesstrafe ja sehr umstritten - es gibt dazu einen tollen Film, in dem ein Gegner der Todesstrafe des Mordes beschuldigt und die Thematik an diesem Fall aufgerollt wird: http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Leben_des_David_Gale
Die meisten Amerikaner stehen hinter der Todesstrafe - werden sie jedoch mit den Abläufen konfrontiert, ändert sich diese Meinung.
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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
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