Die achtziger Jahre

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Moderator: Barbarossa

Wallenstein

Die achtziger Jahre sind seit einiger Zeit wieder Thema in den Medien. Ohne Zweifel vollzogen sich damals große Veränderungen und dies macht sie vergleichbar mit den sechziger Jahren. Zwar war ich damals schon über dreißig, doch man konnte, wenn man es wollte, in dieser Zeit eine zweite Jugend erleben.

Als Folge der Wirtschaftskrisen Ende der siebziger und frühen achtziger Jahre kamen in den USA mit Reagan, in England mit Thatcher und in Deutschland mit Helmut Kohl konservative Regierungen an die Macht, die ihren Wählern eine Rückkehr in die sicheren goldenen fünfziger Jahre versprachen. Doch wer das glaubte, sah sich schnell getäuscht. Die rapiden gesellschaftlichen Veränderungen, die zur Verunsicherung vieler Menschen geführt hatten, nahmen jetzt erst richtig Fahrt auf.

Veränderung der Wirtschaftsstruktur

Die alten Industrien wie Stahl, Bergbau, Werften und viele andere erlebten einen raschen Niedergang, besonders dramatisch in den USA und in England, weniger ausgeprägt in Deutschland, aber auch hier kam es zum Verfall einst blühender Industrieregionen im Ruhrgebiet und im Saarland.

In den verbliebenen Industrien kam es angesichts des verschärften Wettbewerbs durch die EU zu tiefgreifenden Veränderungen. Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland, Flexibilisierung der Beschäftigung, Auslagerung von Fertigungsbereichen (Verringerung der Fertigungstiefen, Zulieferproduktion, Just-in time-Anlieferung, Rationalisierungsstrategie der Massenproduktion (economics of scale) mit der Notwendigkeit einer vielfältigeren Produktpalette (economics of scope), Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien auf Basis der Halbleitertechnologien führte zur Flexibiliserung der Massenproduktion, zu Kleinserien und Rationalisierung der Einzelfertigung. Diese Technologien veränderten die starren Hierarchien im Betrieb, Informationsverarbeitung, Steuerungs- und Entscheidungsebenen wurden nach unten verlagert, die Betriebsabteilungen wurden nicht nur für sich als Abteilungen immer stärker computergesteuert konzipiert (in Konstruktion, Fertigung, Qualitätsssicherung), sondern auch über die neuen Technologien miteinander integriert (computerintegrierte Fertigung – CIM).

Die dritte technologische Revolution

Die achtziger Jahre erlebten den Beginn der dritten industriellen Revolution, den Einbruch der Mikroelektronik und integrierten Schaltungen in die Arbeitswelt. Hatte die erste industrielle Revolution vor 200 Jahren mit der Dampfmaschine hauptsächlich Muskelkraft durch Maschinen ersetzt, besteht das Wesen der dritten industriellen Revolution darin, das intellektuelle Fähigkeiten der Menschen auf Maschinen übertragen werden.

Nach Alexander King, dem ehemalige Leiter des Club of Rome befinden wir uns in einer bedeutenden Umbruchphase der Menschheitsgeschichte, die etwa noch dreißig bis fünfzig Jahre dauern wird, an deren Ende ein neuer Typ von Weltgesellschaft stehen wird mit neuen Wertvorstellungen, neuen politischen und administrativen Strukturen und einer veränderten technologischen Basis, die den Lebensstil völlig verändern wird. Der Soziologe Daniel Bell sprach bereits 1973 von der Entstehung einer postindustriellen Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch drei Merkmale: den Übergang zu einer Informations- und Wissen Gesellschaft, Ablösung alter Wirtschaftseliten durch neue Wissensbürokratien und dem Aufkommen einer antibürgerlichen Kultur.


Die Risikogesellschaft

Die neuen Strukturen wurden begleitet von „Deregulierung“ und „Privatisierung“ und „mehr Markt“, das Credo des Neoliberalismus. Auflösung der bisherigen „Normalarbeitsverhältnisse“, flexible Arbeitszeiten, befristete Beschäftigungsverhältnisse, Entstehung von Zeitarbeitsfirmen, Forderung nach Eigeninitiative und „Privatisierung“ des Beschäftigungsgsrisiko, persönliche Vorsorge für Alter und Krankheiten, teilweiser Rückzug des Staates aus der gesellschaftlichen Verantwortung (Helmut Kohl: Die Staatsaufgaben müssen auf ihren Kern zurückgeführt werden).

Zunehmende Differenzierung des Arbeitsmarktes in einige hoch qualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze und in prekäre befristete Arbeitsplätze, viele sehr gut ausgebildete Absolventen von Hochschulen sahen sich gezwungen Beschäftigungsverhältnisse unter ihrer Qualifikation einzugehen oder wurden zur Selbstständigkeit gezwungen, was dann manchmal als alternativer Lebensstil verbrämt wurde. Der vollmobile Single präsentierte den neuen Arbeitnehmer der Marktwirtschaft.

Der Soziologe Beck sprach 1987 von der „Risikogesellschaft“. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führt zur Enttraditionaliserung von Lebenslagen, Freisetzung von Sozialbezügen und Selbstgestaltung des Lebens, klassische Beziehungsmuster lösen sich auf, Individualisierung und Erosion klassischer Sozialbezüge. Die Existenz wird in einer sich ständig verändernden Gesellschaft zu einem permanenten Risiko, neue Technologien entwerten alte Fertigkeiten und erfordern neue, ganze Berufsgruppen verschwinden und neue entstehen, zunehmende Brüche in der Erwerbsbiographie häufen sich, alles ist in fortlaufender Bewegung, die klassischen Grenzen von Stand, Klasse, nationale Zugehörigkeit oder Ethnie bieten in der modernen Gesellschaft keine Sicherheit mehr.

(Reaktionäre Gruppierungen greifen auf diese veralteten sozialen Merkmale wieder zurück, weil sie sonst nichts haben. Meine Meinung jedenfalls)

Der Soziologe Gerhard Schulz schrieb von der „Erlebnisgesellschaft“. Die Menschen gehen nicht Einkaufen, sondern in „Einkaufsparadiese“, Konsum wird zum Erlebnis, durch den Kauf von Waren erhält der Kunde seine eigene Individualität. Das Auto ist nicht Fortbewegungsmittel, sondern vermittelt Fahrerlebnisse und symbolisiert den Status des Besitzers. Konsumistische Dekadenz ist zum Markenzeichen geworden und dient nicht mehr lediglich der Bedürfnisbefriedigung.

Wertewandel

Die traditionellen Werte wie Hochschätzung der Arbeit, Pflicht, Disziplin und Leistung wurden zunehmend abgelöst durch postmaterielle Werte wie dem Streben nach persönlicher Freiheit und Selbstentfaltung. Laut Inglehart kam es im Bewusstsein vieler Menschen zu einer „stillen Revolution“ hin zu postmateriellen Wertebildungen, ausgelöst durch ein hohes Wohlstandsniveau, mehr Freizeit, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, mehr Urlaub, längeres Verweilen im Bildungssystem, längere Lebenserwartung nach Eintritt ins Rentenalter. Dies führte zu einer individuelleren Lebensgestaltung und zur Pluralisierung der Lebensstile, während gleichzeitig ältere Institutionen wie die Kirche an Prägekraft verloren. Die deutsche Gesellschaft begann sich aufzuspalten in verschiedene Milieus, die jeweils ihren eigenen Wertekanon verfolgen, während die klassischen „bürgerlichen“ Werte erheblich an Bedeutung verloren.

Hin zur Dienstleistungsgesellschaft


In den achtziger Jahren begann eine immer stärkere Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Waren 1970 noch 41,5% der Arbeitnehmer hier beschäftigt, stieg der Anteil 1985 auf 49,4 % und 1991 auf 55,8, 1995 dann auf 61%. Damit liegt die BRD allerdings noch weit hinter den USA und England zurück, da bei uns der industrielle Sektor weiterhin verhältnismäßig groß ist. Doch obwohl nach Überwindung der Krise Anfang der achtziger Jahre ein stetiges Wirtschaftswachstum einsetzte, konnte die Expansion des tertiären Sektors nicht ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten verschaffen. Dies lag daran das: a.) die Rationalisierungswelle auch hier voll durchschlug b.) der Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz sich ständig erhöhte c.) geburtenstarke Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt stießen und d.) ein großer Teil des Kapitals nicht im produktiven Sektor angelegt wurde, sondern in den Finanzsektor strömte, wo nur wenige Arbeitsplätze entstanden (Kasino-Kapitalismus). So pendelte sich ein permanenter Sockel von Dauerarbeitslosen in Höhe von etwa 2 Millionen ein.

Soziale Differenzierung

Das verfügbare Einkommen pro Kopf der Bevölkerung stieg von 1970 bis 1991 auf etwa 50 Prozent an, wuchs aber in den achtziger Jahren nicht mehr so schnell. Trotzdem war die Gesellschaft erheblich reicher geworden, doch verteilte er sich dieser nun ungleichmäßiger. Die Lohnquote stieg in den siebziger Jahren von 68 (1970) auf 76% (1980) und fiel dann auf 70% (1991). Die Einkommen der Selbstständigen entwickelten sich umgekehrt, sie begannen in den achtziger Jahren zu steigen. Erzielte diese Gruppe früher ein durchschnittliches Einkommen von circa 140% im Vergleich zum allgemeinen Durchschnitt der Einkommensbezieher, waren es 1990 circa 250 Prozent. Gleichzeitig bildete sich die sogenannte „Neue Armut“ heraus, allein erziehende Mütter, kinderreiche Familien, Jugendliche und Langzeitarbeitslose. Es kam das Stichwort von der „Zwei-Drittel- Gesellschaft“ auf. Während zwei Drittel recht gut leben, vertieft sich der Abstand zum unteren Drittel.

Auch die Jugend differenzierte sich. Es gab unten die „Punks“ und die „Skins“, oben die „Popper“. Dazwischen die Disko-People, die null-Bock Generation und weitere Spielarten.

In der Musik erlebte man den Trend zu einer Unterhaltung, die nun nicht mehr nur auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet war wie die Popmusik früherer Zeiten, die den Protest der Jugend symbolisierte, sondern sie sollte nun aus marktstrategischen Gründen allen Generationen gefallen. „Modern Talking“ oder „Madonna“ fallen in diese Rubrik, wahrscheinlich auch die „Neue Deutsche Welle“.

Die wichtigste Neuerung im Mediensektor war die Einführung des Privatfernsehens, damit kamen veränderte Inhalt wie unzählige Talkshows, „Seifenopern“ und teilweise ziemlich brutale Spielfilme. Das ist ein eigenes Kapitel.

So, es gäbe noch viel mehr zu sagen, aber jetzt ist erst einmal Schluss. Mir haben die achtziger Jahre sehr gut gefallen, die neue Welt der dritten industriellen Revolution entsprach meinen persönlichen Neigungen und ich hatte zum Glück auch keine finanziellen Probleme.
Ruaidhri
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Was für ein erstklassiger Spiegel der Zeit! Danke dafür!
So, es gäbe noch viel mehr zu sagen, aber jetzt ist erst einmal Schluss. Mir haben die achtziger Jahre sehr gut gefallen, die neue Welt der dritten industriellen Revolution entsprach meinen persönlichen Neigungen und ich hatte zum Glück auch keine finanziellen Probleme.
Wie so oft, liegt positive oder negative Beurteilung im Auge des Betrachters, ob die weitgehende Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft in Milieus nun nur Gutes brachte, mag allerdings aus dem heutigen Blickwinkel hinterfragt werden.
Ebenso wie man auch die Folgen des Konsums als Lebensinhalt und Möglichkeit der Eigendefinition hinterfragen kann.
Im Nachhinein ist man immer klüger.
Ein Zurück, das sich Menschen wünschen mögen, zu mehr Sicherheit, mehr Planbarkeit im Leben, wird es wohl nicht mehr geben.


Edit:
Die Strukturkrisen des Ruhrgebiets habe ich nun live und schon als Schülerin miterlebt, drum habe ich vielleicht auch wenig Verständnis für das Dauergejammer im Osten über den Schwund der Industrie.
Unvergessen das Jahr 1987- Schließung von Krupp Rheinhausen. Der letzte große Akt gesellschaftlicher Solidarität- unabhängig von
" Schichtzugehörigkeit" oder - nicht zu vergessen-Ethnie- im Ruhrgebiet.

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:arrow: Ein doppelter Beitrag (der ohne Edit) wurde gelöscht.
[Mod.]
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Wallenstein

Beim Schreiben des Beitrags viel mir auf, das es einige Begriffe gibt, die man vielleicht irgendwann einmal besonders behandeln müsste. Z.B. „dritte industrielle Revolution“; „Risikogesellschaft“; „Erlebnisgesellschaft“; „Postmoderne“, um nur einmal einige zu nennen. Es gibt noch mehr, möglichweise kennen sich einige mit diesen Dingen auch besser aus als ich.

P.S. Rheinhessen viel mir auch wieder ein. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Auf dem ehemaligen Werksgelände soll es inzwischen eine Reihe neuer kleiner Betriebe geben. Außerdem wird er als Event-Ort angepriesen. Ich selbst war nie dort.
Renegat
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Wallenstein hat geschrieben:Die achtziger Jahre sind seit einiger Zeit wieder Thema in den Medien. Ohne Zweifel vollzogen sich damals große Veränderungen und dies macht sie vergleichbar mit den sechziger Jahren.
Den Vergleich mit den 60ern finde ich schwierig, denn die Veränderungen in den 60ern waren doch eher kulturell, gesellschaftspolitisch.
Die 80er waren in kultureller/politischer Hinsicht eher Reaktion auf die 60er, wie du selber schreibst.
Nachfolgend beschreibst du die 80er dann mehr aus wirtschaftspolitischer Sicht und da wurden in der Tat entscheidende Veränderungen begonnen. Entwicklungen, an die in den 60ern gar nicht gedacht wurde.

Aus meiner Sicht war aber auch in den 80ern in der BRD noch nicht überall erkennbar, außer bei den Industriearbeitsplätzen und im Bergbau, wo die Entwicklung hingeht. Der Computer hielt aus meiner Kenntnis erst in den 90ern Einzug in die Büros. Erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als Gegenmodell nahm die Entwicklung zur ungezügelten Marktwirtschaft und zum schlanken Staat richtig Fahrt auf. Eine Entwicklung, die uns in krisenhaften Situationen wie jetzt "auf die Füße fällt".
Einige Begriffe dazu hast du bereits genannt.
Wallenstein hat geschrieben:Beim Schreiben des Beitrags viel mir auf, das es einige Begriffe gibt, die man vielleicht irgendwann einmal besonders behandeln müsste. Z.B. „dritte industrielle Revolution“; „Risikogesellschaft“; „Erlebnisgesellschaft“; „Postmoderne“, um nur einmal einige zu nennen.
Wallenstein

Renegat
Der Computer hielt aus meiner Kenntnis erst in den 90ern Einzug in die Büros.
Bei uns wurden ab 1981 in der Firma überall Computer eingesetzt. Das geschah auch in vielen anderen Firmen, die ich kenne. Üblicherweise waren es in der Regel lediglich Bildschirme, die an einen Großrechner angeschlossen waren. Sie besaßen noch keinen eigenen Rechner. Ich hatte ab 1982 zeitweise die Aufgabe, bei unseren Kunden überall diese Bildschirme aufzustellen, über die sie sich dann in unseren Großrechner einloggen konnten. Die PC’s mit dem Betriebssystem MS-DOS und später Windows wurden im Laufe der achtziger Jahre entwickelt, setzten sich aber erst später in den Büros durch. Dies war wohl dann in den 90er der Fall.
Ruaidhri
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Bei uns wurden ab 1981 in der Firma überall Computer eingesetzt. Das geschah auch in vielen anderen Firmen, die ich kenne. Üblicherweise waren es in der Regel lediglich Bildschirme, die an einen Großrechner angeschlossen waren. Sie besaßen noch keinen eigenen Rechner. Ich hatte ab 1982 zeitweise die Aufgabe, bei unseren Kunden überall diese Bildschirme aufzustellen, über die sie sich dann in unseren Großrechner einloggen konnten.
In einigen Branchen gab es schon in den siebziger Jahren Rechner, vor allem in den Ingenieur- Firmen standen die Riesenteile, wie Wallenstein sie beschreibt. Ab Mitte der 80er kam dann der rasante Aufstieg der Rechner, fast gleichzeitig eroberte er Arbeitsplätze und dann die privaten Haushalte.
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Wallenstein

Ruaidhri
Wie so oft, liegt positive oder negative Beurteilung im Auge des Betrachters, ob die weitgehende Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft in Milieus nun nur Gutes brachte, mag allerdings aus dem heutigen Blickwinkel hinterfragt werden.
Das kann man natürlich unterschiedlich sehen. Die Differenzierung in Milieus ist allerdings nicht neu. Im Kaiserreich und in Weimar war die Gesellschaft in Klassen zerfallen: Großbürgertum, Adel, Kleinbürger, Proletarier. Sie lebten jeweils in ihren eigenen Welten und standen sich oft feindselig gegenüber. Das führte zum „Einigeln“ in „Lagern“ (Arbeiterbewegung, nationales Lager) und zum Rückzug auf letzte Identitäten (Klasse, Rasse, Nation) und daraus abgeleitete Utopien („klassenlose Gesellschaft“, „rassisch reine Volksgemeinschaft“).

Der zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit wirbelten die Sozialstrukturen durcheinander und scheinbar sah es so aus, als würden 1945 jetzt alle wieder bei null anfangen. In den fünfziger Jahren behauptete der Soziologe Schelsky , die BRD sei eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ und der Bundeskanzler Ludwig Erhard träumte von der „formierten Gesellschaft“, eine homogene Gesellschaft mit gemeinsamen Werten und einer einheitlichen Kultur.
Beide haben die gesellschaftliche Dynamik nicht gesehen, denn die ließ diese Träume bald platzen.
Ruaidhri
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Das kann man natürlich unterschiedlich sehen. Die Differenzierung in Milieus ist allerdings nicht neu. Im Kaiserreich und in Weimar war die Gesellschaft in Klassen zerfallen: Großbürgertum, Adel, Kleinbürger, Proletarier. Sie lebten jeweils in ihren eigenen Welten und standen sich oft feindselig gegenüber. Das führte zum „Einigeln“ in „Lagern“ (Arbeiterbewegung, nationales Lager) und zum Rückzug auf letzte Identitäten
Ganz sicher war/ ist das nichts völlig Neues, doch habe ich- aus dem Blick der Folgejahrzehnte das zugebeben sehr subjektive Gefühl, dass nicht nur die Abgrenzung von Milieus gegeneinander eine neue Schärfe erreicht hat, sondern dass auch der - man verzeihe die Doppelung- der individuelle Egoismus Vorrang vor allem hat, quer durch alle Milieus, Schichten, Klassen, wie man es auch nennen mag.
Was sicherlich mit in die achtziger Jahre gehört: Das große Aufbegehren gegen die AKW, die Friedensbewegung , die Demos gegen den Nato-Doppelbeschluss, und es waren nicht wenige und quer durch alle Schichten, die sich verbanden, um gegen diese Politik zu protestieren.
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Wallenstein

Ruaidhri
Was sicherlich mit in die achtziger Jahre gehört: Das große Aufbegehren gegen die AKW, die Friedensbewegung , die Demos gegen den Nato-Doppelbeschluss, und es waren nicht wenige und quer durch alle Schichten, die sich verbanden, um gegen diese Politik zu protestieren.
Diese beiden Bewegungen habe ich hier nicht aufgeführt, wahrscheinlich weil ich zu ihnen ein gespaltenes Verhältnis hatte und mich persönlich kaum daran beteiligte. Die Anti-AKW Bewegung hielt ich für Maschinenstürmerei und von der Nachrüstung war mir nicht ganz klar, inwiefern sie vielleicht doch nicht ganz unberechtigt war.

Interessant war noch die Hausbesetzerszene Anfang des Jahrzehnts. Deren Anliegen fand ich durchaus berechtigt, die Personen, die sich daran beteiligten, gefielen mir aber nicht. Ich lernte einige von der Hafenstraße kennen und die waren mir nicht sympathisch, Leute mit ziemlich wirren Ideen im Kopf.

Anfang der achtziger gab es bei vielen Menschen eine Ablehnung von Neuerungen ganz allgemein. Privatfernsehen, Video, Mobilfunk (viele hielten dies für ein Yuppie-Spielzeug und mochten es deshalb nicht), Heimcomputer, all dies stieß zunächst auf Protest und wurde teilweise nur widerwillig angenommen. Heute oft kaum noch nachvollziehbar.

Ja, natürlich die Yuppies, die mochte ich nicht. In den USA hatte Reagan die Gier zu einer nationalen Tugend verklärt und lobte die Anhäufung von privatem Reichtum. Die Zurschaustellung von Egoismus und materiellem Wohlstand fand ich obszön. Solche Musikströmungen wie New Romantic oder New Wave unterstützten diesen Trend. In Hamburg entstanden Lokale, weiß gekachelt, ultramodern eingerichtet, grelles Licht und großen Schaufenstern nach außen. Hier ging es darum, gesehen zu werden mit seinen neusten teuren Markenklamotten. Alle benahmen sich plötzlich furchtbar affig und affektiert.

Viele Strömungen in dieser Zeit waren in gewisser Weise eine Gegenströmung zu den sechziger und siebziger Jahren. Waren die hauptsächlich immer „anti“ gewesen, ging es jetzt mehr um Anpassung an die neue Gesellschaft, die vor allem vom Geld bestimmt wurde.
Wallenstein

In den achtziger Jahren machten wir mit Hilfe des Privatfernsehens Bekanntschaft mit amerikanischen Endlosserien, die bei dem deutschen Publikum erstaunlich gut ankamen, da sie anscheinend den Zeitgeist trafen. „Dallas“ und später der „Denver-Clan“ sollte die Zuschauer in die Welt der ganz reichen Ölmilliardäre entführen und uns die Sorgen und Probleme der Oberschicht vor Augen führen. Ich sah mir die Serien zwar nicht an, aber zu meiner Überraschung bekam ich bald mit, das ein großer Teil der Deutschen sehr genau die Vita der Familie Ewing mit ihrem Oberschurken J.R. kannte und über intime Kenntnisse verfügte.

Al Bundy und seine „schreckliche nette Familie“ war zwar an Dämlichkeit kaum zu überbieten, aber vielleicht gerade deshalb manchmal lustig. David Hasselhoff befreite als „Knight Rider“ mit seinem futuristischen Auto K.I.T.T. die Welt von den Bösewichten und ganz cool waren die beiden Supercops in Miami Vice. Sonny Crockett läuft in Markenklamotten am Ocean Drive entlang, dazu die eingängige Musik, lange Einstellungen von Gesichtern; pastellfarbene Beleuchtung und Kulissen oder auch mit kaltem Neonlicht grell ausgeleuchtete Szenen, ein starker Einfluss von Neo-noir, Licht-Schatten und Hell-Dunkel Effekte.
Da kam die deutsche Lindenstraße doch ziemlich hausbacken daher.
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Barbarossa
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Interessante Ausführungen, Wallenstein.
Aber was genau ist eigentlich unter einer antibürgerlichen Kultur zu verstehen?
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Ruaidhri
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In den achtziger Jahren machten wir mit Hilfe des Privatfernsehens Bekanntschaft mit amerikanischen Endlosserien, die bei dem deutschen Publikum erstaunlich gut ankamen, da sie anscheinend den Zeitgeist trafen. „Dallas“ und später der „Denver-Clan“ sollte die Zuschauer in die Welt der ganz reichen Ölmilliardäre entführen und uns die Sorgen und Probleme der Oberschicht vor Augen führen.
Dalas und Denver liefen im öffentlich- rechtlichen Fernsehen, bevor die Privatsender auf Sendung gingen. Dallas war bei uns Studenten Kult- alle in der Examensphase, war der Dallas-Dienstagabend als Sauna-Abend mit anschließendem Glotzen fest gebucht- und immer sehr heiter.
Stimmt, die Ewings gehörten zur Familie.
Diese beiden Bewegungen habe ich hier nicht aufgeführt, wahrscheinlich weil ich zu ihnen ein gespaltenes Verhältnis hatte und mich persönlich kaum daran beteiligte. Die Anti-AKW Bewegung hielt ich für Maschinenstürmerei und von der Nachrüstung war mir nicht ganz klar, inwiefern sie vielleicht doch nicht ganz unberechtigt war.
Man musste nicht mit den Bewegungen sympathisieren, Dauerthema waren sie dennoch, so manche Mensa-Diskusssion ging dann im HiWi- Zimmer weiter.
PC: Ich hatte schon den unendlichen Luxus, dass ein Referendar-Kollege mir die Lehrprobenentwürfe auf dem PC schrieb- ersparte mir die Quälerei der Reiseschreibmaschine und des Tipp-Ex- Massenverbrauchs. :mrgreen:
Interessant war noch die Hausbesetzerszene Anfang des Jahrzehnts. Deren Anliegen fand ich durchaus berechtigt, die Personen, die sich daran beteiligten, gefielen mir aber nicht. Ich lernte einige von der Hafenstraße kennen und die waren mir nicht sympathisch, Leute mit ziemlich wirren Ideen im Kopf.
Die Hausbesetzer-Ära zog sich bis in die 90er Jahre. Sicherlich waren die Anliegen berechtigt, aber die Beteiligten, da gebe ich Dir Recht, waren etwas seltsam im Kopf- oder Leute wie Du und ich zu spießig. :angel:
Mobilfunk kam eigentlich so wirklich erst in den Neunzigern auf.
Eigentlich bräuchte ich bis heute nicht mehr als mein 19,95 € Ding mit Prepaid- Karte. :mrgreen:
Barbarossa hat geschrieben:Aber was genau ist eigentlich unter einer antibürgerlichen Kultur zu verstehen?
Du beziehst Dich auf diese Sätze, in denen Wallenstein die Thesen Bells nennt:
Wallenstein hat geschrieben: Der Soziologe Daniel Bell sprach bereits 1973 von der Entstehung einer postindustriellen Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch drei Merkmale: den Übergang zu einer Informations- und Wissen Gesellschaft, Ablösung alter Wirtschaftseliten durch neue Wissensbürokratien und dem Aufkommen einer antibürgerlichen Kultur.
Gewohnte Lebensbilder- Arbeit-Beruf-Familie-Mutter-Vater-Kinder und Mutter zu Hause begannen sich aufzulösen. Althergebrachtes Denken schwand dahin- und sei es, dass die Eltern sich daran gewöhnen mussten, dass ihre Töchter in gemischten WG lebten, andere Ziele als möglichst schnell Mann, Kinder, Familie kannten, wechselnde Partnerschaften- die gelebte Befreiung seit den 70ern, was die althergebrachten Geschlechterrollen und Lebensplanungen betraf.
Was vorher begonnen hatte, verfestigte sich nun, und vielleicht, ohne nun Alice Schwarzer und Co wirklich gebraucht und groß zur Kenntnis genommen zu haben, waren die 80er auch durch eine andere Wahrnehumg und Selbstwahrnehmung des weiblichen Geschlechts geprägt. Frau wurde selbstständiger, unabhängiger.
Dazu hat u.a. nach Annemarie Renger nicht zuletzt Rita Süßmuth beigetragen, die die konservative, männerdominierte CDU aufweichte und Weichen stellte.
Die Gesellschaft wurde bunter, offener, ließ sehr unterschiedliche Lebensentwürfe zu statt in im Einheitsbrei des "man muss" zu ersticken.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Wallenstein

Anfang der achtziger Jahre erlebte die deutsche Musik mit der Neuen Deutschen Welle einen sensationellen Neuanfang, löste sich vom traditionellen Schlager und konnte mit einigen Interpreten sogar die internationalen Charts erstürmen.

Den Anfang machte die Gruppe „Ideal“ mit Annette Humpe. Ihre Songs „Eiszeit“, „Wir stehen auf Berlin“; „Blaue Augen" und „Sex in der Wüste“ zeigten zunächst einen neuen Menschentyp an, der scheinbar den Zeitgeist verkörperte, kühl, emotionslos, narzisstisch, selbstverliebt.

Die Gruppe Trio kreierte einen neuen Stil: Texte, völlig minimalistisch und vollkommen sinnlos:
„Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha“ oder „Turaluraluralu – Ich mach BuBu was machst du“. Viele schüttelten darüber nur den Kopf, aber es wurde zu einem ganz großen Erfolg.

Dann entstanden immer neue Hits, frisch, fröhlich und witzig. Markus „Ich will Spaß“, Nena „99 Luftballons“, Falco „Der Kommissar“, Fräulein Menke „Hohe Berge“, Peter Schilling „Major Tom“, Hubert Kah „Sternenhimmel“, Extrabreit „Hurra Hurra, die Schule brennt“, um nur einmal einige wenige zu nennen. Nena, Falco und Peter Schilling feierten sogar internationale Erfolge. Mitte der achtziger war aber dann diese Episode zu Ende und nur wenige Interpreten überlebten.

Der neu entbrannte kalte Krieg spiegelte sich auch in der Musik wieder. Bei Nena verursachen die 99 Luftballons einen Atomkrieg, Geier Sturzflug singt: „Besuchen sie Europa, solange es noch steht“.

Die spanische Gruppe Righeira hatte 1983 einen großen Hit mit dem Song „vamos a la playa“ (Wir gehen an den Strand). Scheinbar ein belangloser, netter Urlaubssong, doch wer die spanische Sprache beherrscht, weiß es besser: „Wir gehen an den Strand, die Bombe ist explodiert, die radioaktiven Strahlen rösten uns.“

Und die Gruppe Alphaville fragt in ihrem Hit: Forever young:
“Let's dance in style, let's dance for a while,
Heaven can wait we're only watching the skies.
Hoping for the best, but expecting the worst,
Are you gonna drop the bomb or not?”

Eine herrliche Satire auf den kalten Krieg bringt die Band “Frankie goes to Hollywood” mit dem Hit: „When two tribes go to war”. In dem Videoclip prügeln sich zwei fette Männer im Schlamm, die die USA und die UDSSR verkörpern sollen.
Renegat
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Registriert: 29.04.2012, 19:42

Es war nicht nur die Angst vor der Bombe und dem Atomkrieg, die die 80er prägte, sondern vor allem die Angst vor der Atomkraft allgemein - der Supergau von Tschernobyl war auch in den 80ern.
Wallenstein

Tschernobyl war 1986. Ich beziehe mich jetzt aber auf die Lieder, die sich mit der Gefahr eines neuen Weltkrieges beschäftigten, ein Thema, welches sehr aktuell wurde durch die Nachrüstung und diese Songs wurden schon vor dem Supergau komponiert. Es geht hier nicht um Atomkraft allgemein, das war bereits in den siebziger Jahren das große Thema, sondern um die Kriegsgefahr. Das muss man analytisch trennen
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