Aussprüche von Politikern und was ist davon zu halten?

Kommunalwahlen, Meinungsumfragen, Konflikte, Religionen, Ereignisse

Moderator: Barbarossa

Nico_Neacsu
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So mancher Politiker... hat einen Spruch/Sprüche in den Raum gestellt, wo man mehr oder weniger an dem Wahrheitsgehalt zweifeln muß.

Fange einmal mit Wolfg. Schäuble an:
Es hat niemand die Absicht, im Privatleben harmloser Bürger herumzuschnüffeln.

Ulbricht:
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.


Nico Neacsu
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Triton
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Das sind 2 Zwecklügen: Schäuble weiß, dass eine Überwachung nur Sinn macht, wenn sie unbemerkt ist. Hätte Ulbricht gesagt: "Wir denken über eine Mauer nach und sie könnte schneller kommen als sich das viele vorstellen können" - hätte er eine Fluchtwelle ausgelöst.

Angela Merkel: Mit mir wird es keine PKW-Maut geben.

Wir nehmen doch heute selbstverständlich an, dass Politiker nicht die Wahrheit sagen, wenn sie sich zu ihren Absichten äußern. Konrad Adenauer hat dieses Verhalten legitimiert: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?
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Orianne
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Unser ehemaliger Bundesrat Christoph Blocher meinte einmal, ein Politiker darf lügen. Er begründete dies mit dem Zweck das Volk nicht mit der Wahrheit zu erschrecken.

"Ich habe dissertiert über das Planungsrecht, über die Landwirtschaftszone habe ich geschrieben – abgeschrieben meine ich. Ich habe damals gesagt, dass man Dissertationen nicht schreibt, sondern klebt." Christoph Blocher vor zu Guttenbergs Doktortitelaffäre.
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

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Barbarossa
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Orianne hat geschrieben:Unser ehemaliger Bundesrat Christoph Blocher meinte einmal, ein Politiker darf lügen. Er begründete dies mit dem Zweck das Volk nicht mit der Wahrheit zu erschrecken...
Das halte ich für eine sehr bedenkliche Aussage. Ich gehe da eher mit Helmut Schmidt (SPD) konform, der sinngemäß gesagt hat:
Ein Politiker muss nicht immer alles sagen, aber er darf nicht lügen.

Klar, über bestimmte Themen muss ein Politiker auch mal Stillschweigen bewahren - bei sicherheitspolitischen Themen z. B.
Die Diskussion ist eröffnet!

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Gontscharow
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Ich finde nicht, daß Politiker mehr lügen als andere Berufsgruppen.
In der Werbebranche wird doch beispielsweise gelogen, daß sich die Balken biegen !
Jeder weiß das und niemand regt sich drüber auf.
Oder nehmen wir die Wirtschatft. Banken, Versicherungen .... erzählen die ihren Kunden die Wahrheit ?
Doch wohl kaum.
Alles Lug und Trug auf dieser Welt.
Renegat
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Lügen würde ich das nur in Ausnahmefällen nennen. Verschweigen ist ja auch nicht lügen. Dass im Wahlkampf Dinge versprochen werden, die hinterher am parlamentarischen Prozedere scheitern, kann eigentlich keinen mündigen Bürger überraschen. Demokratie ist kein Wunschkonzert, möglich ist meist nur ein kleines Drehen an den Stellschrauben.
Deshalb wäre es klarer, wenn Politiker sagen würden, diese Gesetzesänderung wollen wir einbringen, was dann letztendlich durchkommt, wird man sehen, ist abhängig von den Mehrheitsverhältnissen, Bundesrat etc.
Ich denke auch nicht, dass es echtes Lügen ist, was die Bürger stört, sondern viel eher dieses Geschwätz, die Redezeit füllenden, inhaltsarmen Sprechblasen, mit dem Unwissen und Unsicherheit weggeschwafelt werden. Warum sagt ein Politiker nicht einfach: "Das weiß ich nicht", "muß mich erst informieren", "das Für und Wider abwägen".
Fängt ein Politiker an zu schwafeln, hört Bürger meist gleich weg und umgekehrt. Schwätzen tun alle, dadurch hat scheinbar keiner mehr Zeit, zuzuhören und zu verstehen, was der andere sagt.
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Marek1964
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Hier nur ein kleiner Hinweis auf ein verwandtes Thema zu Sprüchen von Politikern und Machthabern:

Grosse Sprüche -verheerende Folgen - Göring und Co.
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... =27&t=4887
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Orianne
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Barbarossa hat geschrieben: Das halte ich für eine sehr bedenkliche Aussage. Ich gehe da eher mit Helmut Schmidt (SPD) konform, der sinngemäß gesagt hat:
Ein Politiker muss nicht immer alles sagen, aber er darf nicht lügen.

Klar, über bestimmte Themen muss ein Politiker auch mal Stillschweigen bewahren - bei sicherheitspolitischen Themen z. B.
Christoph Blocher hat aber nicht das Format von Helmut Schmidt, der würde nie so einen klugen Spruch kundtun.
Blocher ist dafür bauernschlau, er merkte als Erster in der Schweiz, dass man sich eine Partei kaufen kann, und damit die kleinen Leute manipulieren kann.
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Lia

Der leichtfertige Ausspruch nach der Wiedervereinigung, Steuererhöhungen seien nicht vorgesehen, und weiter binnen vier jahren seien im Osten blühende Landschaften geschaffen, gehören für mich auch zu den Dreistigkeiten im Wahlkampf.
Cherusker
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Heute haben sie im Radio Sprüche gebracht, die eigentlich eher der PEGIDA-Bewegung zuzuordnen wären, aber von Politiker (Bundersregierung) aus den letzten Jahren stammten. :wink: Heutzutage distanzieren sie sich davon.... :shock:
Lia

Passt ganz gut zum Thema, gerade zu Weihnachten bekommen und gelesen:
http://www.amazon.de/Die-politische-Zun ... C3%B6rksen
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Triton
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Gestern habe ich einen Auspruch Thomas de Maizières gesehen, sinngemäß: e-mails sind wie Postkarten, die kann ja auch jeder lesen.

Von einem Innenminister, der eigentlich das Grundgesetz schützen soll und darauf einen Amtseid abgelegt hat, ist das schon ein dicker Hund. Gegen übertriebene Wahlversprechen ist wohl kein Kraut gewachsen, besonders bei Parteien, die sowieso nie allein an die Macht kommen und deshalb nie einen Nachweis der Aufrichtigkeit antreten müssen. Aber beim Grundgesetz, bei den Bürgerrechten und beim Rechtsstaat ist Toleranz und Augezudrücken nun wirklich nicht mehr angesagt.
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Barbarossa
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Auch über das Thema Deutsche Einheit gab es hier im Forum bereits sehr interessante Diskussionen. Ich hole sie hier einmal als Zitate herüber:
Cherusker hat geschrieben:"Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht." (Gerhard Schröder in der Bild vom 21.6.1989)

1985 hatte dieser Herr auch über Honecker gesagt: "Das ist ein zutiefst redlicher Mann" (Vorwärts, 21.12.1985). :crazy:

Na ja, seine Biograhie hat er sich auch vom Maschmeyer bezahlen lassen.... :mrgreen:
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 127#p47127
Renegat hat geschrieben:Naja, Cherusker, was wußte man allgemein in der BRD 1985 von DDR-Politikern, warum sollte Schröder da mehr Durchblick gehabt haben? War er damals nicht noch Juso, das ist 30 Jahre her?
Im Frühsommer 89 entsprach das Zitat der allgemeinen Auffassung in der BRD, das hatten wir schon hier im Thread. Im Grundgesetz und bei Sonntagsreden mag was anderes verkündet worden sein, geglaubt hat das in der BRD aber kaum einer. Schröder hat einfach nur Klartext gesprochen. Damals kannte er den Maschmeyer noch gar nicht und es müssen noch viele Jahre vergangen sein, bis sie sich kennenlernten.
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 128#p47128
Lia hat geschrieben:Schröder hatte doch nur gesagt, was die meisten dachten, ganz realistisch gesehen. Im Juni 1989 saß ich mit Mitbürgern aus dem Osten auf Besuch an der Nordsee, und niemand glaubte an eine Wiedervereinigung.

[ Post made via Android ] Bild
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 129#p47129

Es gab wohl sogar auch im Westteil Deutschlands eine Gegenbewegung zur Einheit Deutschlands:
Titus Feuerfuchs hat geschrieben:So mancher war mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung alles andere als glücklich, bei den laufenden Gedenksendungen im Öffentlich-Rechtlichen wird das natürlich verschwiegen...


GRÜNE: Nie wieder Deutschalnd

11.11.2014

Was im Rahmen der Feierlichkeiten "25 Jahre Mauerfall" vollkommen untergegangen ist: Noch 1990 protestierten namhafte Grüne gegen die "Annexion" der "DDR". Ganz vorne mit dabei: Nazitheoretikerin Jutta Ditfurth und Claudia Roth. Die Menschenrechtsverbrechen in der Ostzone wurde von den Grünen und anderen Politikern bewusst ausgeblendet.
[...]

http://www.mmnews.de/index.php/politik/ ... eutschalnd
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http://www.mmnews.de/index.php/politik/ ... eutschalnd
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 878#p46878
Barbarossa hat geschrieben:
Renegat hat geschrieben:Der Westen Deutschlands war vor der Wiedervereinigung gut in die EU eingebunden und mit seinen Nachbarn und Zuwanderern einigermaßen im reinen. Wenn ich an 1989 zurückdenke, haben sich alle über die Grenzöffnung gefreut, die politische Wiedervereinigung wurde aber derartig schnell "durchgeboxt", dass die normale Bevölkerung gar nicht zum Nachdenken kam, was das konkret bedeutet. Gefragt per Volksentscheid oder Wahl wurde im Westen ebensowenig.
Das kann sein, nur "Zeit zum Nachdenken" gab es seit der Teilung eigentlich genug und stets war man sich im Westen nach meiner Einschätzung einig, daß man diese Teilung letztlich politisch überwinden wollte (habe das in den West-Medien sehr genau verfolgt). So hieß es ja auch in der Präambel des Grungesetztes bis zur Vollendung der Einheit - als letzter Satz:
(...)
Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
hier: Quelle

Damit hätte jedem klar sein müssen, wohin die Reise geht, sowie die Einheit Deutschlands politisch möglich werden würde.
...
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 714#p21714
Barbarossa hat geschrieben:
Renegat hat geschrieben:Nein, so klar war das nicht. Wir diskutieren hier ja Emotionen und gerade die kann man nicht per Gesetz verordnen.
Das ist klar.
Aber was ich meinte - auf Grund dieser Rahmenbedingungen hätte auch eine (gut informierte) junge Generation sich auf einen solchen Fall - ich sag mal - "seelisch und moralisch" vorbereiten können. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach in Bundestagsreden gelegentlich auch von dem Satz in der Präambel, als er die SPD "fertig machen" wollte... :mrgreen:

Aber eigentlich stimme ich dir zu:
Mir selber ging es ja genau so. Noch im September 1989 war eine bevorstehende Einheit Deutschlands eine ebenso utopische Vorstellung, als wenn "Raumschiff Enterprise" gekommen wäre und Scotty beamt mich hoch...
:mrgreen:
Renegat hat geschrieben:Trotzdem, aus heutiger Sicht denke ich, dass es eine Alternative gewesen wäre, die DDR als unabhängigen Staat in die EU aufzunehmen und sich Zeit zu lassen für ein normales Zusammenwachsen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der deutsche Ostteil heute schlechter dastünde als Polen oder die baltischen Länder...
Aus meiner Sicht und meinen Beobachtungen als EX-DDR-Bürger:
Nein, das wäre auf gar keinen Fall gegangen. Allein schon aufgrund der auch nach der Maueröffnung anhaltenden Fluchtbewegung in den Westen, mußte die Einheit genau so schnell kommen, wie sie dann kam. Schon im Januar 1990 gab es Aufrufe bundedeutscher Politiker an die DDR-Bürger, sie mögen doch im Land bleiben, man würde sich ja um eine schnelle Lösung bemühen (so sinngemäß). Man wußte im Westen einfach nicht mehr, wo man mit den Übersiedlern hin sollte. In der Wahl am 18. März 1990 haben wir im Osten dann auch die schnellst mögliche Einheit gewählt. Das war ein klarer politischer Auftrag - auch an Helmut Kohl (vielleicht sogar vor allem an ihn und er verhielt sich dann ja auch so :wink: ).
Soweit zur Situation - also den Rahmenbedingungen damals, die ich noch gut in Erinnerung habe.

...
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 717#p21717 ff
Karlheinz hat geschrieben:
Barbarossa hat geschrieben:Das kann sein, nur "Zeit zum Nachdenken" gab es seit der Teilung eigentlich genug und stets war man sich im Westen nach meiner Einschätzung einig, daß man diese Teilung letztlich politisch überwinden wollte (habe das in den West-Medien sehr genau verfolgt). So hieß es ja auch in der Präambel des Grungesetztes bis zur Vollendung der Einheit - als letzter Satz:
Als eingefleischter BRD-Bürger West, Jahrgang 1950, muss ich sagen, dass für die mit Abstand meisten Menschen meines Alters und dies gilt erst recht für die späteren Jahrgänge, die DDR und eine mögliche Wiedervereinigung überhaupt keine Rolle im Alltagsbewusstsein der meisten „Wessis“ spielte. Wenn man dort keine Verwandten besaß, war die DDR ein fremder Staat, über den man nicht viel wusste und der einem vor allem auch gar nicht interessierte. Ich fand die DDR nur störend, weil ich häufig nach Westberlin reiste und dann immer durch sie hindurchfahren musste. Den Wunsch, Ostberlin oder andere Orte zu besuchen, habe ich nie verspürt und das ging sehr vielen so. Für „Ossis“ wohl schwer nachvollziehbar

Über andere Länder wusste man wesentlich mehr als über den östlichen Nachbarn und man fand sie auch erheblich
interessanter. Die Leute wollten nach Mallorca reisen, aber bestimmt nicht in die DDR. Wiedervereinigung gab es nur in den Sonntagsreden der Politiker. Wenn man sich daran orientierte und das Westfernsehen als Informationsquelle ansieht, erhält man ein völlig falsches Bild von dem Durchschnittsbewusstsein der meisten Bundesbürger. Wir hatten zwar den 17.Juni als Nationalfeiertag, doch viele wussten gar nicht, weshalb dies überhaupt ein Feiertag ist und sahen ihn vor allem als sozialpolitische Errungenschaft.

Fazit: Die mit Abstand meisten Westbürger waren mit der alten BRD völlig zufrieden und interessierten sich nicht für eine Wiedervereinigung. Natürlich war man angenehm überrascht, als es dazu kam, doch man wollte dadurch keine Störung im Alltagsgeschäft haben. Ich glaube, viele DDR-Bürger hatten eine völlig falsche Vorstellung von der Gemütslage der BRD-Bürger. Für uns spielte die DDR eigentlich überhaupt keine Rolle, wenn man dort keine Verwandtschaft besaß so wie ich. Und was wichtig ist: Sie war irgendwie auch nicht interessant. Dies gilt zum Teil noch immer. Viele Westdeutsche fahren nicht in die neuen Bundesländer. Ich bin auch seit 1990 nicht mehr dort gewesen.
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 733#p21733

Die Friedliche Revolution in der DDR hatte natürlich auch ihre Entwicklung und die habe ich in meinem Buch über diese Zeit auch beschrieben. Hier einige Auszüge daraus - quasi als Eckpunkte dieser Entwicklung:
Im Laufe des November 1989 begann eine sehr intensive innergesellschaftliche Diskussion über die weiteren Ziele der Friedlichen Revolution. Diese Diskussion wurde nicht nur innerhalb der Bevölkerung geführt, sondern auch in allen Bürgerrechtsgruppen, Parteien und sonstigen Organisationen in der DDR und wurde am Ende dieser Diskussion unterschiedlich beantwortet.
Noch auf der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November gab es ausschließlich Forderungen nach einer demokratischen Erneuerung der DDR und einem gerechten und menschlichen – oder wie der Schriftsteller Stephan Heym es nannte – „den richtigen Sozialismus“. Es gab auf dieser Demonstration noch keinen Widerspruch dagegen. Auch die Bürgerrechtsgruppen, wie z. B. das Neue Forum und der Demokratische Aufbruch, sind am Anfang geschlossen für eine Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft und somit für einen Fortbestand der DDR in einem sogenannten „Dritten Weg“ mit einem wie auch immer gearteten „demokratischen Sozialismus“ eingetreten.
...
Tatsächlich war in den Monaten Oktober/November 89 viel erreicht worden:
Die Mauer war offen, überall im Land fanden politische Diskussionen statt – niemand hatte mehr Angst, seine Meinung zu sagen, auch die Medien hatten begonnen, freier zu berichten. Jedoch trat durch diese Offenheit auch die wirtschaftliche Misere des Landes immer offener zu Tage. Und: Man konnte zwar in den Westen fahren, nur fehlte eine konvertierbare Währung, um auch an fernere Ziele zu reisen oder sich die begehrten westlichen Konsumgüter und Lebensmittel leisten zu können. Es mußte also eine konvertierbare Währung her. Die Bundesrepublik hatte seit ihrer Gründung eine solche Währung und sie wurde im Laufe der Jahrzehnte eine der stärksten Währungen der Welt, nur hieße das, daß sich auch die DDR-Wirtschaft auf einem freien Weltmarkt behaupten müßte. Und so stellten sich immer mehr Menschen insbesondere nach der Maueröffnung und ggf. nach Besuchen bei Verwandten in Westdeutschland oder West-Berlin die Frage, ob es nicht überhaupt besser wäre, sich mit einer so starken Wirtschaftsmacht wie der Bundesrepublik zusammenzuschließen. Und wie sollte ein solcher Zusammenschluß aussehen? Konföderation? Oder staatliche Vereinigung?
Das Neue Forum hatte offenbar erkannt, daß sich viele Bürger neben den politischen Freiheiten auch nach dem Wohlstand sehnten, der ihnen jahrzehntelang vom SED-Regime vorenthalten wurde. Die Unterschiede im Warenangebot zwischen der DDR und Westdeutschland lösten einen echten Kulturschock aus. Dies war psychologisch bedingt, denn das von allen Zeitzeugen übereinstimmend als „überwältigend“ beschriebene Warenangebot in den Supermärkten im westlichen Teil Deutschlands konnte Anfangs sogar leichte Schwindelanfälle auslösen.
So waren bereits Mitte November 89 die ersten Rufe aus der Bevölkerung nach einer staatlichen Einheit Deutschlands zu hören und wurden in der Folgezeit immer lauter:
Auf der Leipziger Montagsdemonstration des 13. 11. 1989 sah man zum ersten Mal die Losung "Deutschland einig Vaterland".
...
Am 28. 11. 1989 debattierte auch der Bundestag in Bonn über die Veränderungen in der DDR. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) legte auf dieser Debatte überraschend seinen „10-Punkte-Plan“ für eine Einigung Deutschlands vor, die damit offizielle Tagespolitik der Bundesrepublik Deutschland wurde.
...
Am 19. 12. 1989 traf Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem ersten offiziellen Besuch in der DDR ein. Der Bundeskanzler konnte sich ungehindert von Staatssicherheit und Polizei von den Dresdnern feiern lassen. Bei dem anschließenden Vier-Augen-Gespräch der Regierungschefs legten beide ihre Vorschläge zur weiteren Zukunft Deutschlands vor:
Der Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl und die Vorschläge für eine Vertragsgemeinschaft von Ministerpräsident Hans Modrow wurden dabei verhandelt.
Die anschießende Rede von Helmut Kohl feierten 20.000 Menschen begeistert.
...
Zeitgleich fand auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz eine Demonstration gegen die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten statt.
Auch der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine kritisierte in West-Berlin auf dem dort stattfindendenden Bundesparteitag in seiner Grundsatzrede die Vereinigungspolitik der Regierung Kohl.
Jedoch wurde die Öffnung des Brandenburger Tores in Berlin am 22. 12. 1989 mit einem großen Volksfest begangen. Spätestens in diesen Tagen war die innergesellschaftliche Diskussion in der DDR zugunsten der deutschen Einheit entschieden. Das hieß also, daß eine Partei in der DDR die Einheit Deutschlands in ihrem Programm zu stehen haben mußte, wenn sie bei der nächsten Volkskammerwahl erfolgreich sein wollte. Denn die Erwartungen der DDR-Bürger, in einem vereinten Deutschland würde rasch alles besser werden, waren hoch...
Auszüge aus meinem Buch: http://www.epubli.de/shop/autor/Gilbert-Jacoby/2797
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Barbarossa hat geschrieben:Es gab wohl sogar auch im Westteil Deutschlands eine Gegenbewegung zur Einheit Deutschlands:
In der Bevölkerung (im Westen natürlich) gab es viele Vorbehalte gegen die Einheit. Wer damals eine Wohnung, eine Arbeit oder auch nur einen Gebrauchtwagen suchte, der verfluchte schnell die plötzliche Knappheit durch die Nachfrage von vielen (Ex-) DDR-Bürgern. Von Steuererhöhungen fange ich gar nicht erst an.

Es gab eine politische Gegenbewegung zur Einheit per Beitritt zur Bundesrepublik. So ist es richtiger.
Das Grundgesetz sah einen anderen Weg vor, den einer neuen Verfassung.
Da die Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR zum großen Teil im "Bündnis 90" mündete, das dann mit der Partei der GRÜNEN eine Bindung einging, ist der Vorwurf der Nähe zur ehemaligen SED-Führung absurd. Das waren die Leute, die im Visier der StaSi waren.

Ich denke, es war der größte Fehler der StaSi und der verkalkten DDR-Elite, dass sie Reformkräfte kriminalisierte und die breite Bevölkerung als regimetreu einstufte. Die breiten Massen jagten Egon Krenz und Konsorten vom Hof wie räudige Hunde, als sie dazu in der Lage waren und es war tatsächlich dann die Minderheit der Bürgerrechtler, die noch der Idee des "gerechteren" Deutschlands anhing.
"Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, in dem man sie ignoriert." (Aldous Huxley)
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dieter
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Wohnort: Frankfurt/M.

Lieber Joerg,
Du hast mit dem was Du schreibst recht, es war auch im Westen eine große Wandlung der Verhältnisse. Die Landesversicherungsanstalt Hessen leistete nach der Vereinigung Aufbauhilfe bei der LVA Thüringen. Es war doch nichts da, es sind keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden. Sie wussten auch nicht, welche Versicherungsunterlagen sie besaßen. Anfragen an die Bürgermeisterämter, weil die noch Unterlagen hatten, wurden einfach an die LVA Thüringen weitergeleite, die natürlich nichts hatten, weil noch im Aufbau. Bei Telefonanrufen wurde sich geweigert seinen Namen zu nennen, falsche Vordrucke wurden an Bürgerrechtler gesandt, die Ansprüche auf Entschädigung hatten. Habe erlebt, dass Versicherte bei uns nach einem Jahr Bearbeitungszeit es wagten, mal die Entschädigungsbehörde (Regierungspräsident) auf meinen Vorschlag zu erinnern und ich angerufen wurde, wie ich so was empfehlen konnte. Zeugen für Arbeitsleistungen in der ehemaligen DDR weigerten sich eine Zeugenaussage zu machen.
Überall saßen in den Behörden noch die alten Kader. :evil: :twisted:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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