Ägypten: Von Nasser zu Abd al-Fattah as-Sisi

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Moderator: Barbarossa

Wallenstein

In Ägypten wird gegenwärtig in verschiedenen Etappen ein neues Parlament gewählt. Überraschungen wird es nicht geben. Fast alle Parteien erklären ihre Übereinstimmung mit dem neuen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi. Die Wahlen sind nur eine Formalie. Man könnte sie sich eigentlich auch sparen. Das Volk ist erschöpft, enttäuscht und wendet sich ab von der Politik. Der arabische Frühling? Was war das eigentlich? Die Revolte vom Tahrir-Platz scheint Lichtjahre entfernt zu sein von der Gegenwart, ein Ereignis aus grauer Vorzeit wie die Herrschaft der Pharaonen. In den vergangengen Jahrzehnten erlebte Ägypten einen Wandlungsprozeß vom arabischen Sozialismus zu einem kapitalistischen Staat, der wirtschaftlich noch einen weiten Weg vor sich hat.

Vorgeschichte

Der arabische Sozialismus hieß so, weil er sich selber so nannte und sich als „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus empfahl. Der herausragende Vertreter war der ägyptische Präsident Nasser, damals ein internationaler Superstar, heute vielen kaum noch bekannt.

Anfang der fünfziger Jahre war Ägypten unabhängig geworden, doch der unfähige König Faruk wurde von den „Freien Offizieren“ unter Nasser 1952 gestürzt. Ich war Mitte der sechziger Jahre als junger Mann erstmals in Ägypten gewesen und damals wurde Nasser dort verehrt wie ein Gott. Das war nicht aufgesetzt, die Menschen mochten ihn wirklich. In Ägypten werden schon seit 5.000 Jahren die Regierenden als Götter verehrt und im Westen nannte man Nasser den „Roten Pharao“, obwohl er alles andere als ein Kommunist war. Die Kommunistische Partei wurde in Ägypten blutig verfolgt, was die Sowjets aber nicht hinderte, mit ihm später Freundschaft zu schließen.

Nasser galt als Befreier vom englischen Kolonialjoch. Die Briten hatten das Land in eine Monokultur für Baumwolle verwandelt, es diente zur Produktion der englischen Unterhosen, wie Nasser spöttisch betonte. 90% der Menschen lebten damals auf dem Land als elende Fellachen, ausgebeutet von Großgrundbesitzern. Eine Agrarreform verschaffte vielen von ihnen erstmals Land, die Grundbesitzer wurden entschädigt durch Staatsanleihen, die sich aber bald als weitgehend wertlos herausstellten. Sie sollten ihr Kapital jetzt in Industriebetrieben anlegen, doch sie verschoben es ins Ausland oder importierten Luxusgüter. Eine Entwicklung durch Privatkapital funktionierte also nicht.

Nasser war ursprünglich prowestlich eingestellt und setzte auf ausländisches Kapital. Doch in der überschäumenden Nachkriegskonjunktur investierten die lieber in Westeuropa und in den USA und gingen nur in Entwicklungsländer, wenn es dort strategische Rohstoffe gab, die Ägypten aber nicht hatte. Die USA behandelten Nasser zudem abfällig wie einen Vasallen und wollten ihn vor allem in ein Militärbündnis drängen, was er ablehnte.

Nasser hatte jetzt zwei Pläne:

1. Die Bauern saßen auf kleinen, oft unproduktiven Parzellen. Solange das Land abhängig war von den jährlichen Nilfluten war dies kaum zu ändern. Deshalb sollte ein Staudamm in Assuan die Produktivität erhöhen durch eine kontinuierliche Bewässerung, die zwei Ernten statt bisher nur eine pro Jahr ermöglichte. Dafür brauchte das Land aber Finanziers.

2. Da weder private Unternehmen noch ausländisches Kapital die Industrialisierung finanzieren wollten, musste der Staat einspringen. Ägypten sollte weltweit Maschinen einkaufen und Staatsbetriebe gründen. Auch dafür brauchte man viel Geld.

Die wichtigste Geldquelle war der Suezkanal, der einer britisch-französischen Gesellschaft gehörte. Nur 7% der Einnahmen gingen an Ägypten. 1968 sollte der Kanal an Ägypten übergehen, zu spät, wie Nasser glaubte. 1956 ließ er verkünden, das Ägypten den Kanal schon jetzt übernehmen werde. Das löste eine weltweite Krise aus, britische und französische Fallschirmspringer besetzten den Kanal, die Israelis okkupierten den Sinai. Aber weder die Sowjets noch die USA duldeten neokoloniale Abenteuer. Ägypten übernahm den Kanal und besaß nun die Geldmittel für den Aufbau einer Industrie.
Nasser hoffte auf amerikanische Gelder für den Staudamm, die dies aber ablehnten. Nun ergriffen die Sowjets die Gelegenheit und Chruschtschow erklärte sich bereit, das Projekt zu finanzieren. Beunruhigt durch die britisch-französisch-israelische Militärintervention hoffte Ägypten zudem auf Waffenlieferungen aus dem Ostblock zu seinem Schutz.

Von nun an geriet das Land in eine zunehmende Abhängigkeit von der UDSSR, doch die Freundschaft dauerte nicht lange. Die neuen Helfer führten sich bald wie Herrscher auf und verärgerten die Ägypter. Das Debakel setzte 1967 nach dem Krieg mit Israel ein. Die Sowjets hatten riesige Mengen von Waffen geliefert, die schon in wenigen Tagen völlig zerstört wurden. Man gab sich gegenseitig die Schuld. Nasser sagte: Die Ägypter seien überhaupt nicht an den Waffen ausgebildet worden, sie konnten die Technik nicht bedienen, Handbücher auf Kyrillisch hätte keiner lesen können usw. Die Sowjets behaupteten, die Ägypter seien völlig unfähig und schlampig. Das Verhältnis kühlte ab. Nach Nassers Tod kam es zum offenen Bruch und Ägypten wechselte die Fronten Richtung USA.

Was ist geblieben? Ohne Zweifel kam es zu einem mächtigen Entwicklungsschub, doch eine allmächtige Bürokratie kontrollierte die Industrie, bediente sich selbst und wurde zunehmend ineffektiv. Unter Sadat und Mubarak kam es zu einer Liberalisierung und Privatisierung, die ähnlich ablief wie später in Russland unter Jelzin. Die Militärs privatisierten, in dem sie sich das Staatseigentum untereinander aufteilten. Staatsmonopole verwandelten sich lediglich in private Monopole, auch in Ägypten gibt es nun Oligarchen. Einige steinreiche Familien besitzen fast alles.

Der Assuan-Staudamm, so positiv er einerseits ist, zeigt ebenfalls negative Folgen. Das Wasser wird auch vor allem für die Stromerzeugung genutzt, dazu müssen die Turbinen schlammfrei bleiben. Der fruchtbare Nilschlamm, der seit Jahrtausenden die Felder düngt, wird in dem Stausee zurückgehalten und füllt ihn langsam auf. Die Bauern müssen nun Kunstdünger einsetzen. Die jährliche Flut hat früher auch die Böden ausgewaschen und vom Salz befreit. Seit der Flussregulierung versalzen die Böden jetzt immer mehr.

Der „Arabische Sozialismus“ war ein Versuch, ein rückständiges Land mit Hilfe einer Militärdiktatur in einen Industriestaat zu verwandeln. Dazu bediente man sich populistischer Demagogie und halbherziger Reformen. Dass Resultat war letztlich ein kapitalistischer Staat mit einer steinreichen Oligarchie. Was weiter passiert, bleibt abzuwarten.

Das Ende des arabischen Frühlings


Bei meinen Besuchen in Ägypten hatte ich nie das Gefühl, das die Menschen dort, zumindest in den Städten, besonders fromm sind. In der islamischen Welt zählen sie auch schon seit alters her nicht gerade zu den Vorzeige-Moslems. In den Moscheen kann man sich als Ausländer ungehindert umschauen, der fünfmalige Gebetsruf von den Minaretten wird von den Leuten wenig beachtet, keiner betet oder unterbricht deswegen seine Arbeit. Das ist nicht in allen Ländern so. Und abgesehen von der kurzlebigen Präsidentschaft von Mursi hat sich der politische Islam in Ägypten auch nicht behaupten können.

Aber vielleicht ein paar nähere Ausführungen hierzu und eine Einschätzung des arabischen Frühlings 2011 in diesem Land.
Während der britischen Kolonialzeit entstanden zwei verschiedene Unabhängigkeitsbewegungen:

1.) Die Nationalisten, bestehend aus Kaufleuten, Intellektuellen, also dem Mittelstand, und vor allem der unter britischem Befehl stehenden Armee, zusammengesetzt aus dem Kleinbürgertum. Die Offiziere kamen aus kleinen Verhältnissen, wie Nasser oder Sadat. Die Armee war die einzige Möglichkeit für den sozialen Aufstieg, wenn man nicht zur Oberschicht gehörte. Die Nationalisten wollten ihr Land befreien, orientierten sich sonst aber am Westen, dessen Technik und Wissenschaft sie übernehmen wollten. Das Ziel war ein säkularer, moderner Staat und vage Vorstellungen von Sozialismus, der für sie gleichbedeutend war mit Wohlstand für alle. Kein Interesse bestand hingegen an Demokratie oder Parlamentarismus. Die Militärs wollten alleine herrschen und orientierten sich an den Praktiken im Ostblock mit Einparteienherrschaft, Verbot von Oppositionsgruppen und Kontrolle der Medien.

2.) Die zweite Gruppe hingegen setzte auf eine Erneuerung des Islam, um dem Westen zu begegnen. Der im Pariser Exil lebende Gamal ed-Din-el-Afghani predigte die Rückkehr zu einem reinen Islam, der „Salafiya“. Später nannte man die Anhänger dieser Strömung Salafisten. Die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Quelle des Islam und die vermeintlich glanzvolle arabische Vergangenheit sollte die Befreiung bringen. Solche Ideen zirkulierten in der El-Azhar-Universität in Kairo, fanden Rückhalt in der Geistlichkeit, die die Säkularisierung des Westens verdammte, weil eine Verwässerung der islamischen Ideen ihre Existenz überflüssig machen konnte, imponierten auch den ungebildeten Kleinbauern, die den Predigten aufmerksam lauschten. Ein religiöser Eiferer namens Hassan el-Banna gründete 1928 die Muslimbrüder und wetterte gegen die britischen Kolonialherren.

Somit gab es in Ägypten zwei konkurrierende Organisationen, die gegen den westlichen Kolonialismus kämpften: die weltlichen Nationalisten und die religiösen Muslimbrüder. In diesem Wettkampf hatten die Militärs bis heute immer die Nase vorn, die sich später wieder dem Westen näherten.

Nach der Unabhängigkeit verbot die Armee die unerwünschte Konkurrenz der Muslimbrüder als politische Partei, duldeten sie aber stillschweigend weiter als inoffizielle Organisation, da sie zu viele Sympathisanten hatten. Diese übernahmen nun karitative Aufgaben, wie z.B. den Betrieb von Krankenhäusern, Aufgaben, um die sich eigentlich der Staat zu kümmern hatte, aber nicht wahrnahm. In den vielen Geistlichen in den Dörfern hatten sie einen sicheren Anhang, denn ähnlich wie bei uns früher die Pastoren, sind diese nicht nur Seelsorger, sondern Anlaufstelle und Berater für die Bewohner in vielen alltäglichen Angelegenheiten.

Je mehr der „Arabische Sozialismus“ sich als bloße Propaganda erwies, desto mehr verlor er an Vertrauen und die Menschen setzten wieder auf althergebrachte Werte, denn die islamischen Organisationen waren die einzige bedeutsame Gegenkraft im Land.

Die Liberalisierung der Wirtschaft in den neunziger Jahren führte zur Entstehung einer steinreichen Oligarchie, schuf aber kaum Arbeitsplätze, da die Investitionen hauptsächlich im Finanzbereich erfolgten oder einen spekulativen Bauboom auslösten, der zur Erstellung zahlreicher, unverkäuflicher Luxuswohnungen führte.

Unter Nasser und seinen Nachfolgern erlebte das Land einen gewaltigen sozialen Umbruch. Lebten in Kairo 1945 nur eine Million Menschen, so sind es heute in der Metropolregion vermutlich 20 Millionen, eingepfercht in einem riesigen Moloch. Ägypten verstädtert zusehends, ein Drittel der Bewohner sind unter dreißig Jahren, oft gut ausgebildet, aber zumeist arbeitslos und ohne berufliche Chance. Als der Aufstand in Tunesien bekannt wurde, zogen im Januar 2011 hunderttausende von jungen Menschen zum Tahrir-Platz mit der Parole „Es reicht“. Zu unerträglich war die Korruption, die Arroganz der Herrschenden, die trostlose wirtschaftliche Lage, die politische Repression geworden.

In dieser frühen Phase der Revolution spielte der Islam überhaupt keine Rolle, die Muslimbrüder beteiligten sich nicht an dem Aufstand. Die jungen Leute forderten Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Parlamentarismus. Man hat dies oft als „Facebook-Revolution“ bezeichnet, weil die Demonstranten sich über die modernen Medien verständigten. Das hatte den Vorteil, dass man schnell riesige Massen zu Kundgebungen aufrufen konnte, hatte aber den Nachteil, dass es sich hier eigentlich nur um „Flashmobs“ handelte. Aus diesen Meetings entstanden keine festen Organisationen, keine Parteien, keine strukturierten Organisationen, keine charismatischen Führer, keine richtige Ideologie. Es kam nur zu kurzfristigen Zufallsbegegnungen, alles blieb anonym und spontan.

Die Armee mischte sich zunächst nicht ein. Der Zorn der Demonstranten richtete sich nicht gegen das Militär, sondern gegen den Mubarak-Clan. Den wollten viele Generäle auch loswerden, denn Mubarak plante, seinen Sohn als Nachfolger zu ernennen und eine Dynastie zu gründen. Das hätte anderen die Karriere verbaut, also waren sie bereit, den Diktator opfern.

Anfänglich hatten fast alle Ägypter die Revolution begrüßt, doch sie brachte zunächst keine greifbaren Ergebnisse. Stattdessen führte sie zum Kollaps der Wirtschaft. Und noch bedrohlicher: Die Wut der Demonstranten richtete sich gegen die Polizei. Die Wachen wurden niedergebrannt und die Polizei löste sich auf. Kairo hatte nun keine Ordnungshüter mehr. Doch eine Stadt ohne Polizei ist nicht regierbar. Anarchie, Chaos, Gewalt und Verbrechen konnten sich jetzt ungehindert ausbreiten, nichts stellte sich dem entgegen. Die Menschen hatten Angst, bewaffneten sich mit Knüppeln und Äxten, um den marodierenden Banden etwas entgegen zu setzen. Es drohte der völlige Zusammenbruch der gesellschaftlichen Strukturen.

Das drohende Chaos verlangte nach Ordnung und einer eisernen Hand. Aus Angst suchten die Ägypter jetzt ihr Heil bei den Muslimbrüdern und wählten deren Partei. Es rächte sich nun, dass die Tahrir-Demonstranten sich auf Flashmobs beschränkt hatten und keine Organisationen besaßen. Sie verschwanden aus dem politischen Spektrum.

Die Muslim-Brüder unter Mursi vertraten einen moderaten Islam, daneben gab es aber auch die Salafisten als radikalen Flügel. Doch auch Mursi wirtschaftete schnell ab. Er besaß überhaupt kein tragfähiges Programm. Zu offensichtlich wurde zudem, dass die Gruppe um den Präsidenten nur danach trachtete, sich möglichst schnell zu bereichern und als neue Oligarchie das Land zu beherrschen. Der fruchtlose Streit um islamische Gesetze lähmte Ägypten und polarisierte die Gesellschaft. Zudem besserte sich nicht die wirtschaftliche Lage und das Land versank immer weiter im Chaos. Der Präsident isolierte sich zusehends und selbst die Salafisten wendeten sich gegen ihn.

In dieser Situation putschte im Sommer 2013 wieder das Militär, unterstützt von großen Teilen der unzufriedenen Bevölkerung, auch von den ehemaligen Tahrir-Demonstranten und sogar den Salafisten.

Es ist so, als hätte jemand in Ägypten die Reset-Taste gedrückt und alles wieder auf null gesetzt. Die Muslim-Brüder wurden vernichtet und mehrere tausend von ihnen ermordet. Auch die liberale Opposition ließen die Generäle zerschlagen. Der neue Diktator Abdel Fattah el-Sisi regiert unumschränkt wie einst Nasser. Ähnlich wie sein Vorgänger betreibt er einen unglaublichen Personenkult. Politik und Gesellschaft wurden eingefroren. Auf den arabischen Frühling folgte ein arabischer Winter.
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