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Von dem Ende der sechziger Jahre bis zum Putsch 1979 war Afghanistan ein beliebter Aufenthaltsort für junge Reisende und Aussteiger aus aller Welt, von den Einheimischen pauschal als Hippies bezeichnet. Welche Auswirkungen hatte dies für das Land? Erweckte dieser Kontakt zwischen dem Westen und dem Orient Interesse und Neugierde bei den Einheimischen oder wurde dadurch möglicherweise sogar der Grundstein gelegt für die spätere Ablehnung der westlichen Kultur, wie sie vor allem am Beispiel der Taliban zu beobachten ist?

Heute kommen junge Leute aus Deutschland als Soldaten nach Afghanistan, bewaffnet und mit einem militärischen Auftrag, der von vielen inzwischen sehr kritisch hinterfragt wird. Nur wenige erinnern sich noch daran, dass schon einmal viele junge Menschen aus der Bundesrepublik nach Afghanistan gefahren sind, in friedlicher Absicht, auf der Suche nach Abenteuer, neuen Lebensformen und vor allem aber, um dort billige Drogen zu konsumieren.

Die Afghanen bezeichneten sie als Hippies, die Reisenden akzeptierten dies und erfanden für sich selbst keinen eigenen Namen.

Bei Hippies denkt man an junge Leute mit Blumen im Haar, Love und Peace, ungezwungenen Lebensstil, Popmusik, bunte Kleidung und an den Genuss bewusstseinserweiternder Drogen. So etwas gab es in Deutschland allerdings kaum, es existierte kein deutsches San Francisco, es gab keinen Summer of Love 1967, nur wenig, was man mit der Aufbruchbewegung in Kalifornien vergleichen konnte. Das Pendant zu den Hippies in den USA bildeten in der Bundesrepublik die Gammler, langhaarige junge Männer mit Parka und Jeans bekleidet und junge Mädchen im Minirock. Sie klinkten sich bewusst aus der Konsumgesellschaft der sechziger Jahre aus, lehnten eine regelmäßige Tätigkeit ab und erklärten das Nichtstun zu einer Tugend. Dies stieß bei der überwiegenden Mehrheit der älteren Generation auf völliges Unverständnis, hatten die sich doch mit viel Fleiß und Arbeit aus dem Nachkriegsschutt herausgearbeitet und es zu etwas gebracht. Die demonstrative Faulheit der Gammler, ihre nachlässige Kleidung, der Bruch mit allen Konventionen wirkte als ungeheure Provokation. Es kam zu einer innerstaatlichen Feinderklärung, als der Bundeskanzler Ludwig Erhardt von Gammlern, Pinschern und Intellektuellen sprach und die Bildzeitung eine Art Pogromstimmung schürte. Dabei gab es höchstens einige tausend echte Gammler in Deutschland. Da sie sich allerdings an den exponierten Stellen in den Großstädten aufhielten, wo sie täglich von vielen Menschen gesehen wurden, wirkten sie besonders auffällig. Meistens kamen sie aus mittelständischen Gesellschaftsschichten, besaßen einen guten Schulabschluss, oft eine Ausbildung. In der Regel gammelten sie auch nur auf Zeit, gingen später wieder einer ganz normalen Berufstätigkeit nach, machten Karriere, gründeten Familien. Zur Not konnten immer noch die Eltern mit einem Scheck einspringen. Sie wählten eine freiwillige Armut, schliefen unter Brücken, weil sie es so wollten. Dies unterscheidet sie fundamental von heutigen Jugendlichen, die auf der Straße leben, weil sie dazu keine Alternative haben und dies nicht freiwillig tun.

Um dem kalten Winter in Deutschland zu entgehen, flüchteten die Gammler nach Spanien, hauptsächlich Ibiza, Italien, Griechenland, Marokko und in die Türkei. Bald begann man auch das große Abenteuer, Indien und Nepal zu entdecken. Die buddhistische Religion, das exotische Leben und natürlich die Drogen, dies wirkte auf viele Jugendliche ungeheuer faszinierend. Und diese weit entfernten Länder zu besuchen, musste kein Wunschtraum bleiben. Auch mit wenig Geld konnte man ihn realisieren. Am einfachsten trampte man nach Brindisi in Süditalien, dann mit der Fähre nach Patras in Griechenland und von dort weiter nach Istanbul. Mit ungefähr 50 US-Dollar, reine Fahrtkosten, war es dann möglich, von Istanbul nach Neu-Delhi zu fahren, zwar äußerst unbequem, in überfüllten Zügen und Bussen, zusammengepresst zwischen vielen Einheimischen, aber es ging. Die Türkei und der Iran waren wegen der dort herrschenden Diktaturen und der strengen Drogengesetze nicht beliebt und diese Länder wurden daher schnell passiert. Anders hingegen war die Situation in Afghanistan. Dort regierte ein greiser Monarch, der 1973 von seinem Schwiegersohn gestürzt wurde, die Monarchie abschaffte und sich fortan Präsident nennen ließ. Viele Hippies unterbrachen hier für längere Zeit ihre Reise und blieben manchmal monatelang.

Das erste Ziel nach Überquerung der Grenze bildete die alte Stadt Herat und dort blieben sie zumeist mehrere Tage. Dann ging es mit dem Bus weiter über Kandahar nach Kabul über eine gut ausgebaute Straße im Süden des Landes. Die Fahrzeit betrug etwa 22 Stunden und die Busse waren zumeist nicht sonderlich komfortabel. Das Tal von Kabul bildete dann das vorläufige Endziel für viele Reisende, bevor sie anschließend nach einem längeren Aufenthalt weiter nach Peschawar in Pakistan fuhren über den berühmten Khaiberpass, den man damals problemlos befahren konnte. Viele unternahmen von Kabul aus noch einen Trip in das Bamyian-Tal mit den berühmten Buddha-Statuen, die später von den Taliban gesprengt wurden, obwohl die Busfahrt dorthin ungefähr 14 Stunden dauerte und ziemlich strapaziös war. Von Bamyian aus reisten einige zu den wunderschönen Seen von Band-e-Amir auf einer extrem schlechten Straße. Der Norden hingegen, dort, wo jetzt die Bundeswehr stationiert ist, Mazar-i-Sharif und Kundus, wurden fast gar nicht aufgesucht.

Die westlichen Reisenden kamen in eine Welt, die so ganz anders war als ihre eigene. Afghanistan lebte noch im Mittelalter, besaß eine archaische Kultur, die vielfach noch von Stammesstrukturen bestimmt wurde. Die zutiefst konservativen Werte wurden vom Islam geprägt. Auf dem Lande lebten die Menschen in Lehmhäusern, oft ohne Strom und Wasser, die Dörfer häufig festungsartig durch Mauern gesichert. Viele Täler sind nur schwer zugänglich und die Bewohner leben isoliert von der Außenwelt. Die Infrastruktur befand sich in einem sehr schlechten Zustand. Nur die Großstädte Herat, Kandahar und Kabul waren durch eine gut ausgebaute Straße miteinander verbunden. Auch die größten Städte machten einen provinziellen Eindruck. Viele kleine Handwerksbetriebe prägten das Straßenbild, nur wenige Autos fuhren in den Städten, Transport mit Pferdewagen oder Eselskarren waren durchaus üblich. Frauen sah man selten und wenn, dann immer vollständig mit einer Burka verschleiert.

In dieser Welt wollten die Hippies ihren Traum von freier Liebe und alternativen Lebensformen ausleben, ein denkbar schlecht gewählter Ort. Doch in anderer Hinsicht stellte Afghanistan keine schlechte Wahl dar. Es war dort extrem billig und Drogen, Haschisch in sehr guter Qualität, überall verfügbar.

Schon kurz nach dem ersten Eintreffen der westlichen Reisenden entwickelte sich eine touristische Infrastruktur, bestehend aus einfachen Hotels, Restaurants und Läden mit Souvenirs, zwar alles denkbar primitiv, doch für die anspruchslosen Gäste durchaus zufriedenstellend. In den Zimmern wohnten sie mit fünf oder sechs Personen und schliefen auf einfachen Pritschen. Bettzeug wurde häufig nicht geboten, denn sie hatten meistens einen Schlafsack dabei. Toiletten zweigten vom Flur ab, gelegentlich gab es auch Duschen, doch das Wasser lief nicht immer. In den Aufenthaltsräumen lagen oftmals nur Teppiche, auf denen die Hippies vor Wasserpfeifen hockten und Haschisch inhalierten. Frühstück bestand aus Kaffee oder Tee mit Fladenbrot. Der Preis für eine Übernachtung betrug zwischen 20 bis 50 Cent pro Person in heutiger Währung, auch damals bereits unschlagbar billig. Haschisch kostete wenige Euro pro hundert Gramm und der schwarze Afghan besaß höchste Qualität. Das normale afghanische Essen konnte man kaum genießen, aber einige Restaurants hatten sich auf den westlichen Geschmack eingestellt. Hier servierte man Nudeln, Spaghetti, Fleischgerichte, hauptsächlich Hühnchen, leckeren Obstsalat und vorzüglichen Kuchen. Mehr als 30-40 Cents brauchte ein Gast für ein üppiges Mahl nicht auszugeben.

Dieses unglaublich niedrige Preisniveau ließ die Hippies glauben, sie befänden sich im Paradies. Der Konsum von Drogen war zwar nicht legal, aber das Verbot wurde von niemandem beachtet, handelten doch selbst Polizisten mit diesem Stoff. Haschisch wurde zumeist in den Hotels und in einigen Restaurants geraucht. Die ganze Szene war so verlockend, das viele sich oft monatelang in dem Land aufhielten.

Kamen in den 60er Jahren nur einige hundert Traveller aus Deutschland nach Afghanistan, schwoll ihre Zahl in den siebziger Jahren gewaltig an. Nicht nur aus Europa, sondern auch aus den USA, Kanada und Australien kamen immer mehr junge Leute in das Land am Hindukusch. In den Sommermonaten hielten sich bestimmt durchschnittlich an die 10.000 Reisende dort auf. Die Gammlerszene hatte sich in Deutschland inzwischen aufgelöst, nun fuhren meistens Studenten in ihren Semesterferien dorthin oder alle möglichen Aussteiger.

Um nach Asien zu fahren, brauchte man vor allem viel Zeit, die Geldfrage war angesichts der niedrigen Preise nicht so dringend. Natürlich musste man aber auch über eine gewisse Barschaft verfügen, ohne die ging es selbstverständlich nicht. Wer nicht genug Geld besaß, konnte sich mit Handel finanzieren. Am einfachsten war dies natürlich mit Drogen, aber auch sehr gefährlich, falls jemand in den Iran oder in die Türkei reiste. Nicht so riskant war der Kauf von Wollmänteln, Wasserpfeifen, Schmuck oder Lapislazuli. All dies ließ sich später gewinnbringend verkaufen. So mancher Hippie entwickelte sich zu einem gewieften Geschäftsmann und verzichtete auf den früher deklarierten Konsumverzicht.

Über zehn Jahre lang bildete Afghanistan ein Zentrum der Hippiekultur. Was für Auswirkungen hatte dies, auf die Bewohner des Landes und auf die Besucher? Kam es zum „Kampf der Kulturen“? Zur Völkerfreundschaft? Zu einem toleranten Miteinander? Zu einem wechselseitigen Verständnis des anderen und Respektierung seiner Kultur?

Was die Hippies betrifft, kann man sagen, dass sie sich in der Regel nicht für das Land interessierten, in dem sie sich aufhielten. Sie blieben zumeist unter sich und hatten auch nicht das Bedürfnis, die Einheimischen kennen zu lernen. Afghanistan war eigentlich nur interessant, weil es dort billig war und der Kauf von Drogen keine Probleme machte. Dem Islam standen die Hippies fast alle ablehnend gegenüber. Sie interessierten sich zwar für Religion, aber das bezog sich in erster Linie auf den Buddhismus und vielleicht noch den Hinduismus, aber für den Islam hatten sie nicht das geringste Verständnis. Dass die Einheimischen es nicht gerne sahen, wenn man als Ungläubiger die Moscheen besuchen wollte, wurde als Schikane gewertet, den Fastenmonat Ramadan empfand man als Zumutung, obwohl sie in den Restaurants meistens auch dann Essen erhielten. Die Verschleierung der Frauen erschien als das finsterste Mittelalter. Überhaupt hielten die Hippies die Afghanen für primitiv und rückständig, kaum jemand hatte ein Interesse an ihrer Kultur oder war bereit, sich damit zu beschäftigen. So hockten die Hippies meistens zusammen, konsumierten Drogen und schmiedeten neue Reisepläne.

Und die Afghanen? Mit den Hippies kamen zu ihnen Besucher aus der westlichen Welt, die aber in keiner Weise repräsentativ für diese Kultur waren. Obwohl sie nicht viel Geld besaßen, schienen sie den armen Bewohnern unglaublich reich zu sein. Dass sie monatelang nichts taten, keiner Arbeit nachgingen und nur Drogen konsumierten, bestätigte bei ihnen das Vorurteil über die westliche Dekadenz. Das Benehmen der jungen Leute, die freizügige Bekleidung, vor allem die der Mädchen, das musste auf die meisten bizarr, exotisch und gelegentlich verletzend wirken, wenn die Reisenden Tabubrüche begingen, ohne dies zu bemerken. Erstaunlich ist aber dennoch die Toleranz, mit der die Afghanen das Treiben dieser Gäste erduldeten. Nur ganz selten kam es zu Feindseligkeiten. Einige Einwohner zeigten Interesse an den Reisenden, allerdings ging es ihnen vor allem darum, nach Europa oder in die USA auszuwandern und sie hofften, dass die Hippies ihnen dabei helfen könnten.

Alles in allem wird man wohl sagen müssen, dass es nicht zu einem besseren Verständnis der jeweils anderen Kultur kam, sondern dass die bereits bestehenden Vorurteile bestätigt wurden. Hippies und Afghanen blieben sich fremd und gingen nicht aufeinander zu. Allenfalls kam es zu dem, was man als „verächtliche Toleranz“ bezeichnen könnte. Man tolerierte den anderen, ohne ihn zu verstehen oder gar zu mögen. Längerfristig gesehen hat diese Berührung zwischen Ost und West wenig bleibende Spuren hinterlassen.

Mit dem Putsch 1979 veränderte sich die Situation in Afghanistan und es begann eine endlose Leidensgeschichte, die kein Ende findet. Nachträglich gesehen, erscheint die „Hippie-Zeit“ als ein goldenes Zeitalter und manch ein Afghane erinnert sich wehmütig an diese, glücklichere Phase seines Landes. Junge Afghanen hören ungläubig diese alten Geschichten. Die spätere, bei vielen verbreitete antiwestliche Einstellung hat aber wohl nichts mit dieser „Hippie-Zeit“ zu tun, sondern ist ein Resultat der späteren Ereignisse.

(Der Verfasser ist in den siebziger Jahren häufiger in Afghanistan gewesen),

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